Gedanken, Themen, Projekte, Lebensstationen
1) Inaugurationsrede 2000
2) Einleitung Music that works 2009
3) Kultur der Kunst 2001
4) Die Kinderprag
5) Frankfurt
6) Mannheim
7) Ulm
8) Freiburg
9) Stuttgart
10) Salzburg
11) Wien
12) again: Deutschland und Frankfurt
Reden, Texte
1)
Inaugurationsrede Universität Mozarteum am 24.11. 2000 in Salzburg, altes Mozarteum, Wiener Saal
Zwischen Glasperlenspiel und MUZAK
Zur aktuellen Herausforderung für die Universität der Künste
Verehrte Festversammlung, Magnifizenzen, verehrte Vertreter und Vertreterinnen öffentlicher Einrichtungen, verehrte Amtsinhaber der Universitäten, verehrte Lehrende und Studierende, verehrte Künstlerinnen und Künstler, sehr geehrte Damen und Herren –
In zwei Tagen wird die Bevölkerung in Oberösterreich darüber abstimmen, ob in Linz ein neues Opernhaus gebaut werden soll oder nicht. Es wird eine Volksbefragung sein, die darüber entscheidet: Welchen Platz wird die Musik künftig in Linz haben? Wird sie überhaupt einen bedeutenden Platz haben?
Im politischen Vorfeld dieser Entscheidung war auf Plakaten zu lesen: Handwerker und Hausfrauen, Arbeiter und Rentner – sollen sie etwa den „Luxus“ eines Opernhauses bezahlen? - Eine Aufforderung, gegen das Vorhaben der Stadt zu stimmen. Wir werden sehen, wie das ausgeht. Wir können nur hoffen.
Ich erinnere mich noch gut an ein Erlebnis, das ich vor Jahren in Ulm hatte. Es war mein zweites Engagement an einem Theater, nachdem ich am Nationaltheater Mannheim das Kinder- und Jugendtheater aufgebaut hatte. Im Ulmer Ensemble sang damals Koichi Maeda, ein Tenor aus Japan. Natürlich fragte ich ihn: Können Sie mir über die japanische Musik erzählen? Der Sänger lächelte und antwortete: Tut mir leid, davon weiß ich nichts. Wir haben zuhause nur Mozart, Beethoven und Bach gehört.
Ja, so stark hat also die europäische Opernkultur auf die Weltkultur gewirkt. Die Besucherströme aus allen Ländern, die zu den Salzburger Festspielen kommen, bestätigen das immer wieder aufs Neue. Auch die Tatsache, dass gut 60% der Studierenden des Mozarteums aus dem Ausland kommen, ist ein Beweis dafür. Sie wollen sich hier in Salzburg zum Beispiel zum Operntenor oder zur Sopranistin ausbilden lassen.
Es war hier in Salzburg, wie Sie wissen, dass in Europa diesseits der Alpen erstmals eine Oper aufgeführt wurde, nämlich Monteverdis Orfeo. Seit fast vierhundert Jahren ist die Oper aus Europa zu einer Kulturform geworden, die ihre tiefe Wirkung auf die Kultur der ganzen Welt gehabt hat und immer noch hat.
„Zukunft braucht Herkunft“ Dieser Satz stammt von dem Philosophen Odo Marquart, den ich hier im Wiener Saal schon in meiner ersten Rede zitiert habe. „Zukunft braucht Herkunft“ das bedeutet: Tradition ist zum geistigen Überleben notwendig, aber gleichzeitig ist Modernität gefragt. Heute geht es um die Verpflichtung, im Künstlertum – heute heißt es oft Kreativität - wieder eine maßgebliche und gestaltungsfähige Kraft unserer Gesellschaft zu erkennen.
Es wird ihnen vielleicht platt erscheinen, aber es ist ja leider wahr: Niemand macht einen Aufstand, wenn es um die Anschaffung von Waffen und militärischen Maschinen geht. Aber warum will eigentlich keiner wissen, wie sehr unser Leben von geistiger und künstlerischer Arbeit abhängt. Von der Arbeit der Architekten, der Maler, der Musiker und der Theaterleute. Was wäre unsere Welt wohl ohne Mozart, Beethoven und Schubert? Diese Menschen haben seit ihrem Tod mehr Arbeitsplätze geschaffen als irgend jemand sonst.
Ist es nicht an der Zeit zu begreifen: Künstlerische Kultur bedeutet Leben. Und Investitionen dafür können sich für die ganze Gesellschaft vielfach amortisieren.
Ich habe mir für meine Rede heute zum Thema gesetzt: „Vom Glasperlenspiel zur MUZAK.“
In Hesse‘s vielschichtigem Roman „Das Glasperlenspiel“ geht es auch um das Überleben der Kunst. Das Glasperlenspiel ist ein Gleichnis für eine globale Kunst, die aber systemisch die Künste mit allen Wissenschaften und Erfahrungen aus allen Kulturen zu verbinden vermag. Es wird auf großen Festen unter Teilnahme der ganzen Bevölkerung zelebriert. Die Meister des Spiels sind in der Provinz Kastalien beheimatet. Hesse‘s Protagonist, der oberste Spielmeister Josef Knecht, dessen Werdegang im Roman erzählt wird, befürchtet das Ende des Glasperlenspiels.
Die äußere Not des Staates würde zur Einstellung des Spiels führen, im Land würde man sich allgemein fragen, wofür diese hochausgebildeten Spezialisten eigentlich gut seien und ob das Spiel nicht Luxus, ja Verschwendung in solchen Zeiten sei.
Hesse beschreibt in seinem Roman auch die Geschichte des Glasperlenspiels. Es entstand in einer Weltlage, die wir heute unschwer mit der geschichtlichen Situation der Welt nach den beiden Weltkriegen identifizieren können. Nach dieser Dämmerung des humanen Abendlandes versuchen die Künstler, vor allem die Musiker, einen neuen Anfang mit einer Übung des Geistes, die nicht nur die Wissensgebiete Europas, sondern schließlich Kenntnisse und Künste aus der ganzen Welt verbindet. Das Spiel wird in Köln entwickelt. Der geistige Ursprung liegt aber in der Musik und ihrer Wirkung. Hesse beruft sich auf das harmonikale System von Pythagoras und das China der „alten Könige“, wie er es nennt.
Hesse‘s Roman setzt nach Jahrzehnten, vielleicht nach Jahrhunderten dieser Entwicklung ein. Inzwischen überwiegt in diesem Glasperlenspiel eine Tendenz zur Kunstfertigkeit, zur artistischen Virtuosität. Die geistige Botschaft des Spiels selbst wird von vielen Spielern gering geschätzt. Und es wird im Land kaum mehr verstanden. Vor allem nicht mehr nachempfunden. Joseph Knecht, der Magister ludi, spürt diesen Verfall. Er verlässt die pädagogisch-künstlerische Provinz Kastalien und sucht die Freiheit vor der erstarrten zeremoniellen Form. Er will wieder ein einfacher Schulmeister werden, denn er weiß: Nur wenn sich seine Kunst unmittelbaren Erfahrungen aussetzt, also dem Leben selbst, nur dann können ihr Sinn und ihre Bedeutung überleben.
Wie die Abstimmung übermorgen in Linz ausgehen wird, weiß ich nicht. Wir können nur wünschen, dass dieses „Glasperlenspiel“ gut ausgeht.
Wie erhalten wir die Wertschätzung der Künste für Jedermann und treten Parolen gegenüber, die Vorurteile, Unkenntnis, Angst, Neid, vor allem aber ein Gefühl der Ausgrenzung aufrufen? Haben wir genug getan, um den Wert der Künste deutlich zu machen?
Hermann Hesse’s Roman „Das Glasperlenspiel“ ist eine Parabel für ein Weltbild, in dem die Kunst Menschen und Sinngebung zusammenbringt. Dieses Spiel zeigt für uns alle die Gesetze von Himmel und Erde, wie beides zusammenhängt, wie wir darin leben und wie die Ordnung gefunden werden kann. Die Kunst des Spiels ist die Erkenntnis vom Leben. Aber um das zu können, braucht der Held von Hermann Hesse’s Roman Josef Knecht eine lange Ausbildung als Spielmeister – das heißt also als Künstler.
Künstler auszubilden ist die Aufgabe des Mozarteums. Dafür ist dieses Haus in aller Welt berühmt geworden. Hier studieren künftige Instrumental- und Gesangs-Solisten und -Solistinnen, Orchestermusiker, Schauspielerinnen und Schauspieler, aber auch Musik- und Kunst-Lehrerinnen und Lehrer für die Schulen, für die Musikschulwerke und für die früheste künstlerische Bildung unserer Kinder, wie es Carl Orff initiiert hat.
Das Mozarteum hat eine einhundertsechzigjährige Geschichte in Salzburg, die sich von Anfang an mit dem Bildungsinteresse seiner Bürger wie mit dem Namen Mozarts verband. Ob als Musikschule, Akademie, Hochschule oder Universität – der Charme und die weltweite Berühmtheit liegt am Salzburger Namenspatron, wie es Karl Wagner zurecht erwähnt. Dies war immer ein Ansporn für alle Lehrenden, darunter die größten Namen unserer Musikkultur, hier die beste Ausbildung für angehende Künstler und Künstlerinnen, aber auch für die Kunstpädagogen und Kunstpädagoginnen von Morgen zu geben.
Dies soll so bleiben und ist zugleich eine Herausforderung, die vor uns liegt. Einerseits haben wir diese große Tradition, die wir in bester Qualität weiter pflegen, auf der anderen Seite soll eine Universität der Künste auch im Zentrum der geistigen und künstlerischen Gegenwart stehen. Denn die Kunst hat sich gewaltig verändert. Wenn John Cage über den Klang philosophiert und ihn aleatorisch erzeugte, wenn Andy Warhol Konservendosen zu Kunstwerken erklärt und Bob Wilson oder ein Tänzer wie Gerhard Bohner „knee plays“ zum abendfüllenden Stück machten, dann kann eine der bedeutendsten Kunstschulen der Welt an all den Fragen, die sich daraus ergeben nicht einfach vorbei gehen.
Nein, das Mozarteum muss kein „Glasperlenspiel“ erfinden, aber es muss sich die Frage stellen, was ist im Lauf der Zeit anders geworden? Vor allem müssen wir uns als Lehrer fragen: welche Antworten geben wir, die wir die Künstler und Lehrenden von Morgen ausbilden?
Heute wird in der Kunst viel über Wirkungsästhetik diskutiert, d.h. wie und wodurch wirken Musik und Kunst auf Hörer und Betrachter.
Diese Frage ist in den USA vor über 80 Jahren bereits gestellt worden. In Folge hatte dort General George Squire das erste Patent auf elektronisch übermittelte Musik beantragt. Er bediente sich der Erkenntnis, dass Musik positiv auf Arbeiter in der Fabrik wirkt. Sie besänftigt die Gemüter, fand man heraus, macht gute Stimmung und steigert dadurch sogar die Produktivität. So ging der Unternehmer Squire dazu über, aus den Gefühlen, die Musik anspricht, direkt Geld zu machen. Er gründete die Firma MUZAK und verkaufte über Standleitung diese Musik. Heute hat die Firma zweitausend Angestellte, 250 000 Musikabnehmer und insgesamt achtzig Millionen Hörer auf der ganzen Welt.
Aus dieser Geschäftsidee ist aber inzwischen eine Kulturform geworden, nämlich die Musikberieselung. Musik als Hintergrundgeräusch in Fabriken, Kaufhäusern, Supermärkten, auf Flughäfen, im Restaurant und in Arztpraxen, sogar auf privaten Parties.
Die Verwertung von Musik als Geräuschkulisse zeigt längst Wirkung auf unser tägliches kulturelles Verhalten. Wir finden schon nichts mehr dabei, wenn wir uns über viel zu hohe Lautstärke hinweg anschreien müssen, um uns überhaupt einigermaßen unterhalten zu können. Hintergrundmusik hat einen, wenn auch fragwürdigen, kulturellen Wert angenommen. Und Hintergrundmusik macht vor keinem Komponisten und keiner Kultur Halt.
Ich erinnere mich, dass ich noch als Gymnasiast Robert Jungks Buch las „Heller als tausend Sonnen“. Darin berichtete er von einem Kuhstall einer Großfarm in den USA, der mit Musik berieselt worden war. Bach und Mozart steigerten die Milchleistung ganz erheblich. Später schrieb der Pop Musiker Brian Eno seine Musik for Airports. Musik sollte die Flugangst nehmen.
Soviel Musik wie heute gab es nie. Doch es ist eine eindimensionale Musik. Sie soll beruhigen oder Schwung geben, Gefühle erzeugen und dies immer aus klaren Interessen: mehr Kaufen, mehr Arbeiten, weniger Probleme machen. Und das Radioprinzip – also der permanente Geräuschfluss, wie er heute üblich ist – bietet die Möglichkeit, daraus ein Kulturphänomen zu machen. Classic Radio Hamburg wie Radio Stephansdom Wien sind Beispiele dafür, dass auch im Bereich der sog. ernsten Musik Musikberieselung in unseren Wohnstuben angekommen ist.
Es geht auch hier, wie in Hesse’s „Glasperlenspiel“, um die gesellschaftliche Funktion von Musik. Oder anders ausgedrückt, um das Wissen, wie Musik auf Menschen wirkt und um die Erforschung, wo und wie das nützlich sein könnte. Jeder von uns macht sich Sorgen, dass die künstlerisch-kulturellen Potentiale nicht wie eine Kaufhausware verschleudert oder nur verwertet werden – wie es die MUZAK weltweit macht. Kunst im Schlussverkauf als Alltagsdroge. Ist es das Ende der Kunst?
Lange lebten die Künstler von den kulturellen Traditionen. Und die wandelten sich bekanntlich ganz erheblich. Vom fürstlichen Haustheater und bürgerlichen Straßentheater zum Theaterbau in der bürgerlichen Gesellschaft, von der Musik in Speisesälen der Palais und in Kirchen zu den Konzertsälen. All das hat Musikstile verändert. Es wurden Orchester gebildet und Publikum geschaffen. Uns geht es mit Radio, digitalen Tonträgern und Internet nicht anders. Aber was müssen die Konsequenzen sein?
Nicht ängstlicher Rückzug auf alte Formen, auch nicht Ablehnung der Wirkungsforschung, nur weil die von Geschäftemachern missbraucht wird. Nein, die Konsequenz kann nur sein: wir müssen uns mit anderen wissenschaftlichen Feldern verbinden. Wir müssen das Wissen der Zeit integrieren. Wir müssen Bewusstseinsarbeit leisten und damit kulturelle Arbeit im besten Sinn des Wortes.
MUZAK verwertet Musik ausschließlich in einfacher Wirkung. Der Zweck ist: Mehr Einkauf, höherer Umsatz oder schnelleres Arbeiten. Wir, die Konsum- und Arbeitskühe sollen mehr Milch geben. - Stimmung, Harmoniegefühl – Verhaltensfunktionen werden kalkuliert, um uns zu beeinflussen. Die Droge kommt via Standleitung oder Satellit ins Haus.
Aber, meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit: die Marketingprofis und Werbepsychologen arbeiten intensiver mit der Wirkungsästhetik als die hoch gebildeten Lehrer an den Kunstuniversitäten. Ist das nicht eine traurige Tatsache? Ist es vielleicht die Windstille im Elfenbeinturm, die daran Schuld ist? Die geschützte Situation des Lehr- und Lernverhältnisses?
Auch das Mozarteum als Ausbildungs- und Bildungsstätte steht zwischen den Extremen Glasperlenspiel und MUZAK . Wir bilden Solisten für das Konzertpodium oder den Orchestergraben aus und natürlich auch Musiklehrer und –lehrerinnen. Aber sicher wird so mancher Absolvent auch mit kommerziellen Einspielungen sein Geld verdienen müssen – oder wollen.
Aber wenn das Wissen der Zeit an den Studenten und Studentinnen aus lauter Eifer, das Handwerkliche der Künste gut zu lernen, gelegentlich vorüber rauscht, dann darf das nicht bedeuten, dass der Pädagoge als vermittelnder Künstler ebenfalls abseits neuer, wissenschaftlicher Erkenntnisse stehen bleibt. Er ist wie kaum zuvor gefordert.
Was wirklich nottut ist: Wir müssen uns der physiologischen und psychologischen Seite der Kunst, also der Erforschung des menschlichen Bewusstseins stellen. Kunst ist nicht nur traditionelles Erbe. Sie muss vielmehr wieder ins gesellschaftliche Leben eindringen im Sinn der Lehren des Glasperlenspiels. Das heißt: als das geistige Medium, das uns fähig macht, die Welt und uns selbst zu begreifen.
In den USA schreien Wirtschaft und Industrie nach der Kunst, weil sie die Kreativität der Kunst dringend brauchen. Sie schreien nach dem, was durch Kommerzialisierung und Konsumpropaganda so rar geworden zu sein scheint: die eigenen Gestaltungskräfte des Menschen. Doch darf es in der Debatte der Kreativität nicht um die Endausbeutung unserer Lebensideen gehen. Es geht nicht um die Häppchen in Dosen, nicht um die Nudeln aus dem Paket. Denn Kreativität braucht Bedingungen, Bedingungen, wie das Leben selbst.
So kann es zum Beispiel ein Opernhaus, eine Theaterbühne sein, die dann einer Stadt Begegnung mit anderen Lebensideen vermittelt – und dies nicht nur über die Bühnenrampe. Oder wollen wir künftig die Opernarie aus dem Werbespot einer Suppenfirma hören, die vielleicht erfolgreich im Industriegebiet einer Stadt angesiedelt werden konnte?
Wir alle brauchen Erfahrungen mit unserem Bewusstsein - wollen wir wissen, wer wir eigentlich sind.
Warum schlucken unsere Kinder Ecstasy und dröhnen sich mit Musik zu? Weil sie meinen, so eine Bewusstseinserfahrung machen zu können. Natürlich sind sie auf dem Weg der Selbstzerstörung, aber welche anderen angemessenen Möglichkeiten der Bewusstseinserfahrung bietet ihnen unsere Gesellschaft sonst an?
Wir sollten auch gemeinsam darüber nachdenken, welche Rolle das Mozarteum in Zukunft spielen könnte, wenn wir über Musikpädagogik reden. Die jungen Musiker und diejenigen, die Musik später lehren wollen, müssen ja zunächst Erfahrungen mit sich selbst machen. Sie üben, proben, denken nach: wo ist meine Zukunft.
Das bedeutet natürlich Stress. An unseren Universitäten muss deshalb das Lernen gelehrt werden. Das ganz besonders für junge Künstler und Künstlerinnen. Dazu müssen die Lehrer gute Psychologen sein, um all diese psychischen Prozesse zu verstehen. Dieses Lernen lehren und Lernen lernen gilt für beide: Für den Künstler als Lehrer ebenso wie für den Schüler.
Musik und Kunst verändert den oder die, der oder die sie macht, und bereit ist, sie in sich wirken zu lassen, denn Musik und Kunst sind die Versenkung in das Geheimnis des Lebens. Da ist Bewusstseinsarbeit, also die Erkenntnis von Bewusstsein gefragt.
Die Asiaten erkunden durch Meditation ihr Bewusstsein.
Wir Europäer haben dafür die Kunst.
Ebenso wie die Technik des Musizierens oder Malens gehören die geistigen Fragen zum Lehren. Das hat, so denke ich, nicht zu tun mit alten romantischen Vorstellungen, wie sie Hermann Hesse in seinem Glasperlenspiel in Frage gestellt hat, sondern mit modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Gehirnforschung hat nämlich herausgefunden: Das Musizieren fördert differenzierte Gehirnstrukturen,
bringt die Intelligenz voran und fördert die Kreativität.
Alles Dinge, die unsere Gesellschaft dringend braucht. Da sind uns – ich muss es leider wieder feststellen – die Amerikaner weit voraus, weil sie mit diesen Erkenntnissen viel pragmatischer umgehen als wir Europäer, von denen diese Kultur eigentlich stammt.
Neurophysiologen in Genf beschäftigen sich seit ein paar Jahren mit der Frage: Macht Mozart intelligent? Also: beeinflusst Mozarts Musik unser Gehirn so positiv, dass man das auch messen kann. Aber in den USA traut man sich, das sofort zu erproben. In großen schulischen Lernprogrammen wird die differenzierte Wirkung von Musik entwicklungspsychologisch erprobt. Und – meine Damen und Herren – ja, es stimmt tatsächlich: Mozart mach intelligent.
Ein Österreicher, der in Tübingen Professor für Neurophysiologie ist, sagt: gebt jedem Kind ein Instrument in die Hand und die Intelligenz wird bei allen messbar steigen.
In Graz gibt es einen Physiker, der untersucht, was kann man gegen Stress im Arbeitsleben tun? Er ist ein sogenannter Chronobiologe, das heißt, er erforscht die Rhythmen des Körpers, also Wachen und Schlafen, wann die Organe arbeiten oder z.B. den Rhythmus des Eiweiß- Stoffwechsels.
Der Forscher bei Graz erprobt gerade etwas, das uns hier wirklich brennend interessieren müsste. Nämlich: Wie Kunst physisch und psychisch auf uns wirkt – im Spezialfall: wie Kunst in der Lage ist, Stress abzubauen, d.h. Körperrhythmen in Einklang zu bringen. In Graz besteht die Testgruppe aus Bauarbeitern - eine Berufsgruppe, die besonders unter Stress leidet.
Und wissen Sie, was dieser Chronobiologe die Bauarbeiter machen lässt? Er lässt sie Gedichte deklamieren, und zwar betont rhythmisch „ Zu Dionys dem Tyrannen schlich Damon den Dolch im Gewande ..“
Meine Damen und Herren, Sie ahnen es: Es hilft tatsächlich. Jedem Arbeiter klebt der Wissenschaftler zwei Elektroden auf die Brust und befestigt am Gürtel ein Aufzeichnungsgerät. Es läuft 24 Stunden. Die hirngesteuerten Körperfunktionen werden genauestens gemessen und dokumentiert. Anhand dieser Aufzeichnung kann der For¬scher dann feststellen, wann und in welcher Heftigkeit Stress aufgetreten ist und wann und wie er durch die rhythmische Deklamation oder sogar durch eurythmische Bewegungen wieder verschwunden ist.
Die Maschine unseres Bewusstseins ist das Gehirn. Und gerade die Künste sind die wundervollen Arrangeure dieses Bewusstseins. Wie können sie im Abseits bleiben in einer Zeit, in der die Bewusstseins- und Wahrnehmungsforschung so rasant voran strebt?
Eine Universität der Künste muss sich den zeitgenössischen Herausforderungen stellen und die neuen Ergebnisse der Wissenschaften integrieren. Sicher, sie hat sich um die beste ästhetische Praxis zu kümmern - aber nicht nur das. Sie muss ganz besonders Sorge dafür tragen, dass das Wissen um das künstlerische Werk und seine Wirkung auf uns, auf die Gesellschaft, auf unsere gesamte Kultur - in den Händen der Kunst bleibt. Gerade mit der Kunst-Pädagogik hat sie besonders die Aufgabe, das Wissen um die Kultur der Künste und vor allem den Zugang zu ihnen in der Gesellschaft lebendig zu halten.
Oder wollen wir diesen Bereich Europas ganz fernöstlichen Traditionen der Bewusstseinsbildung überlassen.
Das Mozarteum als Universität, für die ich in den nächsten vier Jahren als gewählter Rektor Sorge trage, ist vom Kunstuniversitätenorganisationsgesetz gut ausgestattet, um viele Kräfte an dieser Arbeit der Zukunft zu beteiligen.
Ein paritätisches, demokratisches Gremium, das Universitätskollegium, gestaltet die Entwicklung der Gesamtgeschicke maßgeblich mit. Eingesetzte Arbeitsgruppen bereiten Entscheidungen vor.
Der Universitätsbeirat, dem Persönlichkeiten aus Kunst, Wirtschaft und Öffentlichem Leben angehören, vermittelt zwischen Gesellschaft und Universität.
Die Studiendekane, Prof. Horst Peter Hesse, Prof. Gottfried Holzer Graf und Prof. Robert Pflanzl entwickeln, organisieren und evaluieren mit ihren Vizedekanen und -Vizedekaninnen die Studien nach Studienplänen, die demokratische Studienkommissionen erarbeiten. Studiendekane sind zugleich die Anwälte der Studierenden.
Vierzehn gewählte Institutsvorstände und entsprechende Institutskonferenzen nehmen die wirtschaftlichen und personellen Möglichkeiten der Universität partnerschaftlich in die Hand.
Die gewählten Vizerektoren, Prof. Paul Roczek, Prof. Kurt Huettinger und Gertraud Steinkogler-Wurzinger, haben sich die Aufgaben Personalentwicklung, Evaluierung, Erschließung der Künste und internationale Beziehungen vorgenommen.
Drei Dienstleistungseinrichtungen, die Zentrale Verwaltung mit Universitätsdirektorin Dr. Annemarie Lassacher, die Bibliothek mit Hofrat Dr. Rainer und die Internationale Sommerakademie, die von Vizerektor Prof. Paul Roczek künstlerisch-pädagogisch geleitet wird, bilden mit ca. 80 Mitarbeitern das organisatorische Rückrat der Universität Mozarteum.
Nicht zuletzt ist die verfasste Hochschulschülerschaft, die ÖH, ein kritischer wie kooperativer Partner in allen Gremien der Universität und unerlässlicher Partner in vielen Studienfragen. Das Engagement der Studenten dient nicht nur dem Interesse der Studierenden. Die ÖH ist ebenso eine unerlässliche, gestaltende Kraft der ganzen Universitätsöffentlichkeit.
Das Mozarteum selber hat auf tragische Weise vor gut zwei Jahren seine Heimat verloren. Jetzt schickt es sich an, dank der guten Ermutigung durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, wie auch der Bundesgebäudeverwaltung hier in Salzburg, die Behelfsräume über Lebensmittelgeschäften, Schuhläden und Banken an der Peripherie der Stadt zu verlassen. Es will dorthin zurückzugehen, wo es der Bürgersinn dieser Stadt gründete und pflegte: ins Herz Salzburgs.
In Stuttgart sagte man: die Schwaben sparen so lange, bis es richtig teuer wird. - Nach dieser alten, unseligen Baugeschichte für das Haus am Mirabellplatz 1 und den Zuständen dort wird es nicht mehr bei nur einem Gebäude für die Universität Mozarteum bleiben können. Aber der Rückzug in das Gebäude Mirabellplatz 1 eröffnet auch eine gute Möglichkeit, aus der derzeit hässlichsten Mauer von Salzburg an der Dreifaltigkeitsgasse, eine gute städtebauliche Lösung zwischen drei wichtigen Verkehrs- und Kulturplätzen Salzburgs zu erreichen: die Verbindung zwischen Mirabellplatz, Mirabellgarten und Markartplatz.
Dass sich die Stadt wie das Land Salzburg helfend zum Mozarteum, ja zu beiden Universitäten bekennen und damit der kulturellen Tatsache Rechnung tragen, zweifache Universitätsstadt zu sein, das ist mein Wunsch in dieser Entwicklung.
Meine Damen und Herren, blicken wir abschließend noch einmal auf Herrmann Hesse’s Glasperlenspiel zurück.
Wir leben auf einem Kontinent, gerade in Österreich und Deutschland, mit einer fast einmaligen Dichte von Kultureinrichtungen. Wir feiern das Barock, die Romantik, die Moderne. Wir leben in einem Meer von Musik, Literatur, Bühnenperformance und bildender Kunst.
Doch mit dem Blick auf unsere Kontinentalgeschichte müssen wir uns eingestehen: „Das 20 Jahrhundert war grauenhaft, eines der schrecklichsten von allen“ – ich zitiere den Publizisten Klaus Podak – „Kriege, Katastrophen, Barbarei – beispiellos, in noch nie dagewesenen Ausmaßen. Noch niemals in der sogenannten Humangeschichte
wurden so viele Menschen mit technisch-bürokratisch-institutionalisierten Methoden auf vernünftige, rational geplante, subtil durchdachte Weise so bestialisch von Menschen gequält und ermordet. Wir nennen uns heute die Wissensgesellschaft – aber die Szenarien für die von uns verursachte Umweltentwicklung in den nächsten 100 Jahren sind weniger als aussichtsreich für ein zumindest humanes Überleben.
Wie kommen wir dazu nach so viel künstlerischer Kulturentwicklung hier mitten in Europa in den letzten zwei, fast drei Jahrhunderte?
Die Kunst war einmal aufgerufen zur Erkenntnis, Sublimierung und Verteidigung des Humanen. Unsere historische Grundlage, die aufkommende Gesellschaft Mitteleuropas im 18. Jahrhundert verwandte mehr als 100 Jahre darauf, um mit allen Disziplinen der Kunst diesem neuen Menschen des gleichen Naturrechts Klang, Phantasiebild, Gestalt und Gestus zu geben. Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen wurden stets und ständig verfasst – von Schiller bis Joseph Beuys. Aber wie weit sind wir damit gekommen?
Sagen wir es anders: wieviel wollte die Fortschrittsgesellschaft davon wissen? Der Begriff „Fortschritt“ kam im frühen 19 Jahrhundert auf. Fortgeschritten sind unsere Modelle und Einsichten in die Struktur der Materie einschließlich unseres Körpers. Fortgeschritten sind unsere technologischen Fähigkeiten.
Fortgeschritten sind unsere Möglichkeiten, Krankheiten zu heilen, Hunger zu stillen, Organisation und Kommunikation zu schaffen. Fortgeschritten sind die Aktienkurse, die Weltmärkte, der Welthandel.
Ist aber auch unsere geistige Verantwortung fortgeschritten, ist zuvor das Bewusstsein von uns selber fortgeschritten?
Stehen wir nicht vor der Einsicht – ich nenne nochmals Neurophysiologie, Chronobiologie, Immunbiologie - wie eng Körper und Geist, Bewusstsein und Materie in der „Bildung“ des Menschen miteinander verwoben sind. Mehr denn je ist Bewusstseinskultur zugunsten einer guten Entwicklung gefordert.
Ich sage es ganz platt: wir brauchen dazu Musik und bildnerische Kunst als zentrale Fächer in den Schulen, wir brauchen mehr Kreativität und Gestaltung des Einzelnen im persönlichen und öffentlichen Lebensraum.
Wir müssen hier wirklich unsere Kultur betrachten, die Form, in der wir die Dinge betreiben. Wir brauchen mehr von der Kultur, die die Kräfte des Bewusstseins und der Verantwortung pflegt und fördert.
Es ist vernebelnd und eigentlich lächerlich, wie sich heutzutage in der Debatte die Begriffe Kunst und Kultur vermischen.
Die Künste konnten und können keine fatale Entscheidung der Politik oder der Wirtschaft verhindern. Aber sie können immer wieder die bewusstseinsfördernden, humanen Kräfte des Lebens aufspüren, reklamieren, hervorstellen. Sie können über die Wirkung aufklären, sie überhaupt untersuchen.
Dies ist Bewusstseinsarbeit, die auf der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit fußt. Mit der Erkenntnislehre der Kunst ist das möglich. Wir sollten sie als Instrument mentaler und psychischer Wirkung betrachten.
In diesem Sinn vermittelt eine Universität der Künste Erkenntnis von Wahrnehmung und von Bewusstsein – in den ihr eigenen, kulturell gewachsenen Sprachen. Es sind dies die Sprachen der Künste.
Wir erfahren mehr und mehr von ihrer aufregenden Wirkung auf die physische wie psychische Bildung des Menschen. Die Kunst muss sich heute mit den Humanwissenschaften wieder verbinden – sie braucht nur ihre eigene Geistesgeschichte zu bedenken. Besonders im Medienzeitalter mit seiner nie dagewesenen Allgegenwart von Musik und Design, Darstellung und Bild, müssen Menschen über die Sprache und Anwendung der Künste, über Takt, Frequenz, Lautstärke, Proportion, Farbe, Raumbewegung, Tempo aufgeklärt werden.
Es ist die zweite Aufklärung, the second age of enlightment. Diesmal nicht über die Ideologie eines Weltbildes, wie im 18 Jahrhundert, sondern über die Ideologie unseres Selbstbildes.
Glasperlenspiel oder MUZAK?
Kunst als Bewusstseinskultur - oder bloße Verwertung um des Profits willen. Zwei globale Modelle stehen wie Szilla und Charypdis an unserem Weg. Das Mozarteum - eine Gründung aus der bürgerlichen Bildungsidee – wahrt die Tradition und kann sich zugleich der Aufgabe der Gegenwart als Universität der Künste nicht versagen.
Es muss Antworten nicht nur suchen und geben - sondern es muss sie den jungen Menschen, die aus aller Welt zu uns kommen, auch vorleben. Es ist die europäische künstlerische Reflexion auf die Aufgaben der Zeit.
Dazu sind wir alle hier.
In diesem Sinne freue ich mich auf die nächsten Jahre, in denen ich als Rektor in diesem Haus sein darf.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
2)
Einleitung zur Publikation Music that works, Beiträge aus Biologie, Neurologie, Psychologie, Soziologie, Medizin und Musikwissenschaft, Springer Wien New York, 2009 ( in Englisch)
Mozart und Science 2006
Als Präsident der I.M.A.R.A.A., die den Kongress Mozart&Science 2006 in Baden bei Wien (1.-4. Oktober ) angeregt und das Programm gestaltet hat, freue ich mich über das internationale Interesse an diesem ersten Kongress der interdisziplinären Musikwirkungsforschung in Österreich, den das Land Nieder-Österreich ermöglicht hat. Die I.M.A.R.A.A (International Music and Art Research Association Austria) wurde 2003 in Wien als Plattform für Institutionen gegründet, die als eigenes Ziel wie das der Zusammenarbeit die interdisziplinäre Musikwirkungsforschung für Musikpädagogik und Musiktherapie proklamierten. Für Mozart&Science 2006 haben die Mitglieder der I.M.A.R.A.A. ihr Fachwissen, ihre internationalen Netzwerke wie ihre Arbeitskraft ehrenamtlich eingebracht.
1. Musiktherapie und Qualitätsforschung
Der vorliegende Band ist jedoch nicht die Dokumentation des Kongresses Mozart& Science 2006. Dieser umfasste Beiträge aus Biologie, Chemie, Mathematik, Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Medizin, um über die Erkenntnisse heutiger Musikwirkungsforschung zu diskutieren und für alle Disziplinen Perspektiven aus anderer Forschungssicht auf das Thema Musik anzuregen. Gerade die Brücken zwischen Chronobiologie und Neuropsychologie, zwischen Musiktherapie und Neurologie, zwischen Public Health und Spiegelneuronenforschung, zwischen Musikpädagogik und Emotionsforschung hielten wir für aussichtsreich, um auf eine anthropologisch komplexere Perspektive der psycho-physiologischen Musikwirkung hinzuweisen. Die daraus entstehenden Debatten wird man auf weiteren internationalen Kongressen verfolgen können – wir entschlossen uns für diesen Band aus den 35 Kongressvorträgen vierzehn auszuwählen, die in Grundlagenthemen, neuen Forschungsbeiträgen und Berichten aus der Praxis auf die präventive und therapeutische medizinische Perspektive der Musikwirkung fokussieren.
EinführungRolandHaasSpringerPub.dot|Vers1.0kk|Oktober2006 –1– Springer-Verlag
W
Einleitung
2. Musiktherapie und Medizin
Vielleicht ist es nur ein Problem der österreichischen Medizin, dass Musiktherapie so schwer den angemessenen Platz in der medizinischen Therapie findet – denn blickt man auf Arbeiten von Oliver Sacks und Conchetta Tomaino (Beiträgerin im vorliegenden Band) schon aus den 90 Jahren, sieht es z.B. für USA anders aus. In vielen Kliniken ist dort heute Musiktherapie Standard. Aber dazu gehört wohl auch, dass sich Musiktherapie medizinischen Leistungskriterien stellt und daher die Wirkungen und Funktionsweisen ihrer Anwendung nachweist. In USA scheinen Pflegewissenschaft, Musiktherapie und Neuropsychologie mit Studien zu wetteifern.
Österreich kann inzwischen auf ein Musiktherapiegesetz schauen, das der Österreichische Nationalrat 2008 verabschiedet hat. Hier werden Ausbildung wie Anwendungen geregelt. Doch zeigt der Blick nach Deutschland, welcher Anstrengung es bedarf, musiktherapeutische Leistungen in heutigen Medizinstandards zu plazieren, in Fallpauschalen (DRG) unterzubringen oder mit einem international anerkannten OPS (Operationen Prozeduren Schlüssel) zu versehen. Beides geschieht vor dem Benchmarking der Evidence based Medicine (EbM), die im Bereich der ambulanten wie stationären Leistungen Behandlungsqualitäten nach klinischer Erfahrung und außenliegender Forschung fordert. Dies geschieht in Studien unterschiedlicher Qualitätsstufen – von Level IVb, der Meinung respektierter Experten bis zu I, der Meta-Analyse über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien.
Hier liegen die Qualitätsmargen von Musiktherapie als Intervention, die von psycho- soziale bis zu psycho-somatischen gesehen werden können – auch davon ist in diesem Band im Beitrag von Cheryl Dileo die Rede. Allerdings muss Musiktherapie auch Ihre Mittel gut definieren – eine Cochrane Meta Studie über xx Studien zur Schmerztherapie mit Musik macht deutlich, dass in den seltensten Fällen das Mittel der Wahl, die Musik nämlich, ausreichend qualifiziert wird und sich kaum eine Aussage über ihren Anteil am Heilungsvorgang sagen lässt.
Unsere Auswahl der Beiträge für den vorliegenden Band wie auch der 2. Kongress der interdisziplinären Musikwirkungsforschung Mozart&Science 2008 verfolgen das Ziel, Grundlagenwissen der Musikwirkung in entwicklungspsychologischer, neuropsychologischer und chronobiologischer Hinsicht darzustellen, internationale Beispiele der Musiktherapie
– 2–
Einleitung
aufzuführen und Forschung vorzustellen, die nach Qualitätsklassen der Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN) in EbM von Level IVa bis II reicht. Mit der englischsprachigen Druckfassung soll die Positionierung international für den erweiterten Forschungsansatz in der Musiktherapie erfolgen. Damit rückt auch für die hiesige Anwendung (und Ausbildung) die Debatte um Qualitätskriterien und Qualitätssicherung näher, wie sie international gültig ist. Sich diesen Kriterien zu stellen und sie zugleich für die Musiktherapie zu diskutieren und zu definieren, ist die Absicht des Bandes wie des Kongresses.
3. Musikwirkungsforschung in Österreich
Benchmarking und Qualitätssicherung sind wichtige Ziele der Musiktherapie, in Österreich gerade aufgrund des gesetzlichen Rahmens und weil hier eine staatliche und universitäre Ausbildung zur Musiktherapie höchstes, auch international vergleichbares Niveau in Forschung und Lehre nahelegt.
Denn immerhin kam aus Österreich, 1973, einige Zeit vor der „Decade of Brain“ in den USA, ein international beachteter Aufbruch in die interdisziplinäre Thematik Gehirn und Musik. „ Physikalische und Neurobiologische Grundlagen der Musik, war der Titel, unter dem der Physiker Juan G. Roederer im Carinthischen Sommer, Musikfestspiele am Ossiacher See in Kärnten, eine Pioniertat inszenierte. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin Diana Deutsch merkt dazu rückblickend 2004 an „ ... A series of interdisciplinary workshops on the Physical and Neuropsychological Foundations of Music...were held in Ossiach, Austria [during the Carinthian Summer festivals], and it was at these workshops that many of us learned for the first time, and with great excitement, about studies on music that were being carried out in each other's fields. It became clear at these exhilarating workshops that an interdisciplinary study of music, with input from music theorists, composers, psychologists, linguists, neuro¬scientists, computer scientists, and others, was not only viable but even necessary to advance the understanding of music". Juan G. Roederer schrieb danach das Standardwerk der Psychoakustik und blieb dem Thema bis in die Emeritierung treu. Wir freuten uns, ihn als Festredner des ersten Kongresses gewinnen zu können.
Seine Workshops, noch bis 1985 fortgeführt, sprangen thematisch über auf einer Forschergruppe um Gerhard Harrer und W. J. Revers an der Salzburger Universität, die
– 3–
Einleitung
Unterstützung des Österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan gewann und mit diesem in Salzburg auch neuropsychologisch experimentieren konnte. Nachdem sich erstmals J. Doigel (Über den Einfluss der Musik auf den Blutkreislauf, 1880) mit der Wirkung von Musik auf körperliche Vorgänge beschäftigte, zeigten 100 Jahre später die Salzburger Forscher über Gehirn- und Hautableitungen, wie eine psycho-physiologische Resonanz auf Musik durch Messungen deutlich werden kann, dies in einem Feld psycho-somatischer Forschung und Theoriebildung. Die Steuerung des Vegetativums durch Musik– hier erfolgten vor knapp 30 Jahren frühe Messungen zum Autonomen Nervensystem, die heute international medizinische Praxis sind und durch neue Generationen von HRV-Messgeräten bald zur populären Medizinpraxis für jedermann gehören dürften.
Der Neurologe Hellmuth Petsche an der Wiener Universität verfolgte die Frage, wie sich Musik im Menschen zeigt, seit 1974 mit EEG Messungen, später in internationaler Zusammenarbeit mit den Laboren in Irvine, CA. Er wurde bei Gordon Shaw und Francis Rauscher Zeuge dessen, was als Mozart-Effekt später einen großen Einfluss auf die Neuropsychologie haben sollte. Petsche wandte sich der systematischen EEG Forschung zu, als diese noch ohne Computer arbeitete und den Wert systematischer Hirnwellenmessungen kaum erkannte. Der Auftrag der 1978 gegründeten Herbert von Karajan Stiftung, die wissenschaftliche Leitung zu übernehmen machte ihn zum frühen Vertreter neuronaler Musikuntersuchung mit EEG Ableitungen in Österreich: er fand die intensivere Vernetzung von verschiedenen Hirnregionen beim Musikhören, signifikante Unterschiede in der Verarbeitung von Musik bei Musikern und Nichtmusikern - bei ersteren erlaubten die Auffälligkeiten im Frequenzbereich oberhalb von 30Hz Hinweise bereits den Schluß auf stark kognitive Leistungen. Die Arbeiten von Stefan Koelsch und Peter Vuust zur Musikverarbeitung im Sprachzentrum und der Semantik von Musik sind eine spätere Bestätigung in Zeiten der Magnetresonanztomographie. Petsche konnte mit seinen EEG- Studien bereits „Musikalität im Gehirn“ identifizieren und Howard Gardeners Intelligenzkonzeption folgend konnte er darauf verweisen, dass Musikintelligenz vermutlich am stärksten auf die allgemeine Intelligenzentwicklung zu wirken vermag.
Mit Petsches Arbeiten ist die letzte österreichische Stimme im internationalen Konzert der Musikwirkungsforschung aus dem Aufbruch der siebziger Jahre genannt. Denn während heute allenthalben in der Welt Kongresse über Musik-Perzeption und Kognition gehalten werden, über Neuroscience and Musik, zeigte sich ansonsten an Österreichs Hochschulen und
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in der Forschung wenig Interesse für den internationalen Wissenschaftsaufbruch in Sachen Musikwirkungsforschung und Musiktherapie.
Impulse kamen 1995 durch den Musiktherapeutischen Kongress der Psychologie an der Universität Wien, der auf Dr. Gerhard Tucek und seine Arbeit mit Ethnomedizin zurückging, dann von der verantwortliche Arbeit von Ingrid Haimböck als Leiterin des Karajan Centrums bis 2006 in Wien. Sie trug das Vermächtnis dieser Forschung als Karajan Stiftung weiter und förderte Studien von G. Bernatzky aus Salzburg, Symposien von Hellmut Petsche in Wien oder eine universitäre, interdisziplinäre Vorlesungsreihe. Zu erwähnen sind noch die Arbeit von K. Vanecek, Musikpsychologe der Wiener Universität und das Musikbildungs- Symposium „Musik als Chance“ 1998 in Salzburg durch Jutta Unkart-Seifert initiiert.
Ab 2001 konnte die junge Universität Mozarteum in Salzburg Musikwirkungsforschung in wieder aufzunehmen.
Die Zeiten von Rektor Revers und Prof. Harrer waren in Salzburg lange vorbei - um so erfreulicher, daß 2005 erstmals wieder in Salzburg, nach einem ersten internationalen Kongress Mensch und Musik 2002 und dem Grundlagendforschungsprogramm Mensch und Musik, in dem die Salzburger Universitäten von 2003-2006 kooperierten, ein Kongress der österreichischen Musikwirkungsforschung gehalten werden konnte, der alle älteren und jüngeren Forscher zusammenbrachte. Diese Initiative ging in Salzburg nach einer unseligen Universitätspolitik gefördert durch das Universitätengesetz von 2003 bereits 2006 wieder zugrunde, führte aber indirekt dazu, die I.M.A.R.A.A. in Wien zu gründen (heute Nieder- Österreich) und eine bis heute andauerndes Forschungsprogramm der Musik Medizin der Salzburger Paracelsus Medizin-Privatuniversität zu begründen. Dessen Leiterin, Vera Brandes, präsentiert in diesem Band die wohl erste österreichische Studie zur Musiktherapie nach Kategorie II der EbM – ein Anforderungsgrad, der in der Musiktherapiewirkungs- Forschung auch international bislang selten erreicht worden ist.
4. Kunst und Musiktherapie, Katharsis und Heilung – psychosomatische Perzeption?
Eine Überlegung zum Verhältnis von Musik als Kunst und Musik als Therapie, zur Perception, Musikwirkungsforschung und zur therapeutischen Form von Kunst sei angefügt. Meine Erfahrungen und Beobachtungen mit künstlerichen Formen und Praxis sammelte ich
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25 Berufsjahren als Dramaturg, Festivalpräsident, Theaterleiter, Regisseur und Kurator in kommunalen Theatern und Konzerthäusern Süddeutschlands und als Kulturmanager der Baden Württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Mehr und mehr verlagerte sich die kommunizierte Bedeutung dieser öffentlichen Aufführungen in die Privatspähre, wenngleich die Ausgaben im Kulturbudget der öffentlichen Haushalte für Theater, Oper, Konzert, Tanz und Festival den Löwenanteil bereithalten. Heute wird hier gerne der erfolgreiche „Return of Investment“ herausgestellt – aber den kennt jedes wirtschaftliche Handeln. Ich mußte mich fragen, welche Botschaft die so präsentierte Kunst für die Zuschauer, ihr Verständnis für sich selber und für die Gesellschaft, in der sie leben, eigentlich hat?
Sollte denn die ganze Kunst mit ihrer jahrhundertealten Debatte der „Katharsis“ oder der ästhetischen Bildung für den Einzelnen am Ende nicht mehr sein können als elaborierter Unterhaltungs- und Bildungsbetrieb für knapp 7% der Gesellschaft? Dies mit einem 200 Jahre alten Repertoire im Musikbetrieb, einer Ästhetisierung von Schauräumen, die kaum mehr „Katharsis“ als hohes Ziel der Menschenbildung kennen und ihre eigene Ästhetik anderen Medien nachbilden, mit Vernissagen zwischen Bedeutungskult oder Investitionen in einen Produktmarkt der Unikate – mehr dem value treasure zugeneigt, statt der Bildgebung für das menschliche „Sein“.
Vielleicht eine sehr europäische, romantische Perspektive, die aus der historischen Tatsache der enormen Zahl dieser Einrichtungen auf unserem Kontinent und ihrem öffentlichen Unterhalt auch auf öffentliche Bedeutung und Botschaften schließen möchte.
Dagegen stehen die Massenmedien der heute digitalen , globalen Kunst“schöpfung“ und - industrie – hierher, aus den TVs, den Cinemas, den Googles und Youtubes des Internets kommen heute die Bilder für die Welt, die Musik der Strassen und Strände und die Geschichten, die man international erzählt und versteht.
Es zog mich daher zum Dialog von Wissenschaft und Kunst, um das Verhältnis von Kunst, Katharsis und Therapie zu verstehen, nachdem meine Arbeiten in den Festivalprogrammen und Aufführungen immer mehr therapeutische Formen suchten.
Als „Perception“ ist heute international das Forschungsgebiet gekennzeichnet, dessen Gegenstand die Wahrnehmung der Welt durch die Sinne ist. Wahrnehmung der Welt, wie wir sie als Menschen auf unserem Bildungsweg vom Baby bis zur Berufspraxis erleben und lernen, setzt uns in eine Dichotomie zwischen einem „1. Sein“, das ich als das vorverbale
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Empfinden unserer menschlichen Existenz über das Tor der Sinnesorgane beschreiben möchte. Wir lernen mit allem, diesen Sinneseindrücken zu vertrauen, sie als wahr zu nehmen, denn so lernen wir ja die Welt kennen und schätzen unser Verhältnis zu ihr ab. Dann kommt das nachträgliche sprachliche Benennen der Gegenstände, der Beziehungen zu ihnen und anderen und das Bewerten der Empfindungen dabei.
Das vorverbale Empfinden mit Haut und Haaren und das verbale zusammen sind auch wieder „Sein“, aber nächster, 2. Ordnung. Ein „Abbild“ - aber eines mit Resonanz unserer Sinne. Erst habe die Kinder Mühe, die passenden Wörter mit den Dingen oder Vorgängen richtig zusammenzubringen, wenn sie es dann richtig begriffen haben, beginnen sie uns Gechichten zu erzählen, wobei sie die Dinge und Vorgänge in neue Beziehungen setzten. Das Abbild der Sprache bringt das Spiel - und dennoch bleibt es auch immer im Körper mit der Wahrnehmung durch die Sinne verbunden und mit den Empfindungen, die wir haben. Wir führen nun ein Doppelleben – was wir hören und sehen und fühlen ist das eine (Sein) – was wir davon sagen oder auch vom Sagen sagen, ist das andere (Sein). Im Grunde scheint es einfach, aber es zeigt sich in der ganzen anthropologischen Entwicklungsforschung, wie komplex und diffenziert unsere psycho-physiologischen Kapazitäten diese Beziehungen entwickeln können. Denn wichtig scheint mir hier festzuhalten, dass dieses „2.Sein“ unsere wirkliche menschliche Existenz und ihre Virtousität ausmacht.
Diese „anthropologische“ Besonderheit der „perception“ von „1. Sein“ und „2.Sein“ lässt uns als Gattung immer wieder das Paradoxon unseres Lebens zwischen Tat und Wort, Sein und Erkennen, Wahrheit und Wissen, Einheit und Abspaltung erleben.
Denn mit Symbolen, die als Töne und Wörter, Bilder und Darstellung, das „2. Sein“ der kennzeichnen, können wir dieses syntaktisch-semantisch mit Wörtern und unserer Wahrnehmung durch die Sinne neu fügen. Jeder, der einen Roman gelesen hat, dass wir aus den Seiten eines Buches formlich die Stadt, die Morgenstimmung, den Geruch des Markes, die Menschen, die sich dort bewegen usw. sehen, spüren, riechen, empfinden. Dabei sitzen wir vielleicht in der Straßenbahn und fahren zur Arbeitsstelle – weit entfernt von dem Ort, der uns mit Worten vorgestellt wird.
Soweit wir mit den Sinneseindrücken – und den Körperreaktionen - selber in diesen Symbolen semantisch präsent sind, wirkt der Symbolgebrauch, seine Wahrnehmung, auch ganz direkt auf unser Sein selber. Die Sprache, ein Klang, ein Bild, eine Bewegung – die Symbole der Künste - rufen Reaktionen in uns auf, die heute die Neurobiologe sogar als Aktivierung entsprechender Hirnregionen feststellen kann. In dieser an sich schon alten
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Beobachtung sind das Katharsiskonzept und die wirkungsästhetische Konzeption begründet – welche direkte Entsprechungen man heute dazu auch im menschlichen psycho- physiologischen Bauplan finden mag.
Es ist sogar anzunehmen, dass wir entwicklungsgeschichtlich unsere Wahrnehmungsfähigkeiten erweitert haben – wie die Spiegelneuronen – und psychologisch die Symbolwirkungen im Lauf der Geschichte sinnlich verstärken konnten. Auch ein dunkler Raum mit ein wenig Licht, bunten, bewegten Schatten und Sound läßt wirklich gefühlte Lebensverhältnisse ganzer Familien, Landstriche, Völker vor uns entstehen.
Kunst – Symbolsprache für die Sinne - hebt die Dichotomie unserer „Seins“ auf und lebt sie zugleich. Wir nehmen mit den Sinnesorganen die Symbole der Kunst auf Bühne oder Podium wahr – den Körper eines Schauspielers – und folgem diesem echten Körper in allen seinen uns bekannten Aktionen aber unter anderer Bedeutung: einer bestimmten anderen Identität, einer Handlung, die sich in einem gesetzten Raum ereignet und dennoch über Landstriche eilt, Empfindungen, die von Wörtern gesetzt und von Körpergesten dargestellt werden – und dennoch gehen wir in Resonnanz, empfinden in uns selber, was uns auf diese Art gezeigt wird. Ein großes Spiel des „2.Seins“ - obwohl wir jetzt schon erwachsen sind. – Aber die Kunst ist der Rahmen, dieses individuell wie gesellschaftlich anerkannt zu tun.
Dazu sind Symbole in elaborierter Struktur und Semantik in jeder Kultur entwickelt worden, dazu die Fähigkeit, sich von diesen symbolischen Konstrukten im eigenen „1.Sein“ ansprechen zu lassen. Aber jeder Körper eines Schauspielers, jede Farbe eines Bildes, jede Raumausdehnung einer Skulptur oder einer Tänzerin und jeder Ton einer Musik rufen in uns Reaktionen von Stammhirn, autonomen Nervensystem, Muskelspannung und Hormonausschüttung auf.
Von diesem „Spiel“ zwischen „1.Sein“ und „2.Sein“, vor allem unserer Fähigkeit, damit umzugehen, also von der psycho-somatischen „Perception“, lebt die Kunst - lebt aber auch die künstlerische Therapie. Denn beide arbeiten mit Symbolen des Seins. Die Kunst ist stärker damit beschäftigt, wie Symbole neu gefügt oder sogar neu geschaffen werden könnten, die Therapie ruft mit dem Einsatz der Symbole unsere Kraft auf, sich mit deren Substanz, dem eigentlichen „1.Sein“ zu verbinden. Denn dies ist im Fall der Krankheit aus der Ordnung geraten und macht uns existentiell zu schaffen. Da wir trauniert sind, im „2. Sein“ das „1.“ Aufzurufen und unseren Körper auch wirklich so empfinden zu lassen, geht es der Therapie
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darum, mit den Symbolen des „2.Seins“ das „1.“ Sozusagen zu re-generieren, wieder eine Ordnung zu schaffen, die Existenz ermöglicht.
Daher ist völlig verständlich, das alles, war Kunst ist, auch zur Therapie verwendet werden kann –nur mit den Symbolen wird zu verschienen Zielen hin gearbeitet und ihre Form und Verbindung sind verschieden.
Hier liegt es nahe, daß Kunst und Wissenschaft ins Gespräch kommen. In der Debatte zwischen Kunst und Kunsttherapie muß man auf das Gemeinsame, nämlich die menschliche Bewußtseinsfähigkeit und -arbeit schauen. Während sie – in der Kunst – ihre eigene Sprache fügt und findet, will sie in der Kunsttherapie das deformierte Sein auf der Symbolebene erreichen und neu formieren. Dazu muss sie das „1.Sein“ kennen, also die psycho- physiologischen Zusammenhänge im Körper, die Kausalitäten und Strukturen aller Funktionen. Denn in der Therapie ist es mehr als legitim, diese Funktionen wissenschaftlich zu untersuchen, zu verstehen. Hier gibt es viele Methoden der Annäherung, viele Wege des Verständnisses – aber letztlich sollte angestrebt werden, den ganzen Zusammenhang zu verstehen.
Da die Künste alt sind, teilen sie nicht die Euphorie der Naturwissenschaften, aus jeder Entdeckung ein kausales Prinzip zu formulieren. Ihre Methodik ist vielfältig und so phänomenologisch wie kausal. Wir lernen heute – z.B. in der Psychosomatik – immer mehr zu verstehen, wie Psyche und Physis zusammenwirken. Und wenn Therapie teils mit Imagination arbeitet, um Körpereffekte zu erzielen – so die Eismeerfilme zur effektiven Körperkühlung bei Patienten mit schwerster Verbrennung – so ist es mehr als spannend, zu verstehen, wie der Körper das macht - und was man therapeutisch tun könnte, solche Reaktionen zu induzieren.
Die Symbolsprache der Kunst ist hier eine verläßliche Brücke der Wirkung, denn sie arbeitet ganz mit den Sinnesorganen und ohne Metaphysik, bleibt immer körperlich – aber mit dem Vorteil, diesen sowohl biologisch als auch phänomenologisch auffassen zu können. So muss keine „Leib-Seele“ Debatte aufkommen, wenn es darum geht, Musikwirkung im Gehirn, im Herzschlag, im Blutkreislauf, in den Drüsenfunktionen und in den Muskelspannungen wahrzunehmen – wohl aber eine psycho-somatische.
Musik wurde aus ganz unterschiedlichen Motiven zu Heilzwecken gemacht – mal folgte sie philosophischen, dann staatspolitischen und dann wieder individuellen Maßstäben. Immer
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aber muss sie als Symbolsprache mit Klängen, Melodien, Rhythmen ihre Wahrheit in der Berührung des wirklichen, des „1.Seins“ suchen. Sie braucht die Wissenschaft, um die Perzeption zu studieren und sich ihrer Wirkung ebenso gewiss zu werden, wie dies bei der Schwester, der Kunst-Musik, ein Wolfgang Amade Mozart sein konnte, wenn er für sein Publikum Arien schrieb, die sie berühren sollten. Hier ist ein Dialog von Kunst und Wissenschaft sehr wünschenswert, denn es scheint fast so, als habe die Musikausbildung, die Musikpraxis, heute noch lange nicht das Bewußtsein dieser Fähigkeiten erreicht. Welch eine Kapazität zur heilsamen Kunst – und welch eine Ignoranz, mit dem Frage, was und wie Musik „bildet“ an den Hochschulen reflektierend umzugehen. Ästhetik scheint ein Fremdwort des 18. und 19. Jahrhunderts zu sein, „Katharsis“ nur ein Begriff im Unterricht über die griechische Tragödie. Dabei wächst bei allem heutigen Wissen über „Perception“ eine ganz große Herausforderung an die Musik, die Hörer, das Hören und die Resonanz neu zu befragen. Der Umfang des biologischen Wissens über den Menschen und der Umfang des Wissens über Musik in den Kulturen und der Geschichte machen heute den Disput über Wirkungsästhetik und Form viel einfacher – wenn er denn geführt wird.
Der Vortrag und Beitrag in diesem Band von Björn Lemmer gibt hier ein schönes Beispiel. Man könnte ihn leichtfertig als biologistisches Urteil zur modernen Musik verstehen – Ligeti gegen Mozart. Versuchsratten hatten bei Musik von Ligeti Stress, der messbar war, und keinen Stress bei einer Musik von Mozart. Doch: Ratten sind keine Menschen, sie hören keine Musik – ihnen macht etwas messbaren Stress und etwas anderes nicht. Was bedeutet das für uns?
Menschen spielen mit Stress – und mit Formen, die ihn erzeugen. Warnte die Wissenschaft beispielsweise Anfang des 19. Jahrhunderts noch aufgrund des enormen Bewegungstempos der Eisenbahn mit 25 kmh vor den tödlichen Folgen solcher Beschleunigung, so spielen wir 160 Jahre später mit den Foltermitteln enormster Beschleunigung hingebungsvoll – Uhr, Funk, Telefon, Email, Handheld. Gleichwohl gilt Stress in der Gesundheitsstatistik der WHO als eine der großen Zivilisationskrankheiten mit oft weitreichenden Folgen. Nun ist klar, dass dieser gattungsgeschichtliche Blick noch nichts über die Bedingungen aussagt, die Menschen womöglich zwingen, viel Stress in ihrem Leben zu bewältigen.
Zurück zu Ligeti. Kann Musik im Konzertsaal als Stressor lustvoll eingesetzt werden? Aber ja – „zu viele Noten“ musste sich Wolfgang Amade Mozart in seiner Zeit sagen lasse, also Rezeptionsstress für Spieler und Hörer – und Geörgi Ligeti – spielt offenbar mit Stress
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durch Klänge. Blicken wir im Vergleich auf die Rezeption von „ Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky seit der Pariser Uraufführung, sehen wir bestätigt – der Stress der Konzertbesucher und Skandal des frühen 20. Jahrhunderts hatte sich zu dessen Ende in ein Erlebnis ekstatischen Musikgenusses gewandelt.
Und Adrenalin-Stöße unter Heavy Metal Musik sind lange Zeit unter Jugendlichen in Gruppen sehr ausdauernd gesucht worden. Dass es dazu eine Chill out Musik gibt, zeigt, wie bewusst eigentlich in der Alltags-Kunst das Spiel mit Psycho-Effekten gespielt wird. Kunst formt zuzusagen auch die Fähigkeit, ihre Symbolsprache wahrzunehmen, d.h. zu verstehen und zu empfinden.
Mit diesem Prozeß der „Perception“ beschäftigt sich zwangsläufig auch jede Kunst- Therapie, um herauszufinden, ob und wie das verwendete Symbol des „1.Seins“ (Sprache, Musik, Bild, Drama) auf den Rezipienten wirkt.
Jede Zeit hat dieses Wechselspiel unterschiedlich beschrieben, heute liegen mit Neuropsychologie, Immunobiologie und der Algorithmik der Mathematik sehr subitile Modelle bereit, um Wirkung zu verfolgen und darzustellen.
Daher ist es mehr als wünschenswert, daß Wissenschaft und Kunst in den Dialog kommen. Sie können wechselseitig ihre Konzeptionen erweitern. Die Kunst gewinnt ein genaueres Rezptionswissen und wie ich mutmaße ein subtileres Verhältnis zum Betrachter oder Hörer, mit dessen Fähigkeiten zum Spiel sie genauer umgehen kann, mehr als das: sie kann – was sie immer war – sein genauer Spiegel werden für Dinge, die er heute an sich erkennen muss, weil sie Zeitfragen menschlichen Verhaltens und der Lebensformen sind. Wissenschaft kann von der Phänomenologie der Symbolsprache lernen. Wie die Fahrzeugbauer Körperdynamik von Tieren abschauten, um mit wenig Widerstand höhere Fahr- oder Flugleistung zu erhalten, so ist heute vermutlich das Modell künstlerischer Perzeption für die Schnittstellen von Gehirn und Computer interessanter als ein Modell aus der Computertechnologie selber. Für das hier angesprochene Thema künstlerischer Therapie kann der Dialog über das Bewußtseinsmodell Kunst Freiheiten nach 2 Seiten schaffen: die Wissenschaft, hier die Medizin, kommt zu einer strukturierten Ganzheit im Verständnis der Krankheit, indem sie den Bewußtseinsweg nachvollzieht, der uns zur Kunst befahigt. Die Kunst verliert die Angst, aufzuhören, wenn sie sich therapeutisch betätigt, denn sie erkennt die gemeinsame Wurzel zur Kunst in der Bewußtseinsfigur des Menschen und prägt von dort ihre Eigenarten ins künstlerische einerseits – ins katharsis-therapeutische andererseits freier und stärker aus.
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So schließt sich der Bogen zur öffentlichen Bedeutung der Kunst: neben der Schule für die Kinder geht es hier um eine Schule des Bewußtseinspiels aller, in der einerseits lustvoll mit den Schaffungen neuer „Seinfügungen“ gespielt wird, um letzltlich die Erfahrung unserer Natur zu erweitern, zu testen, diese in extenso als Möglichkeit, also spielerische Wirklichkeit vorzuführen. Die Künste als Bewußtseinsspiel zu betreiben, auch im Wissen um die Strukturen des menschlichen Bewußtseins, und nicht als Formenvorrat alter und neuer Geschichten: hier liegt eine Perspektive zu einem freien Umgang mit Erfahrungen. Das ist keine moralische Anstalt mehr, eher eine unmoralische, weil aber im bewußten Spiel doch eine Ethische. Wir schauen nicht auf das Abbild der Gesellschaft, blicken wir auf Bühe oder Podium, sondern wir schauen auf das Abbild des Bewußtseins. Das macht einen großen Unterschied, die Kunst so zu gebrauchen. Es macht aber auch frei, die dort gebundenen Mittel dahin zu bringen, wo man sie dringend zur gesellschaftlichen Entwicklung braucht.
Wie groß der Bedarf dazu ist, zeigen die vielen trivialen Formen von Bewußtseins „wissen“ die in der Gesellschaft sehr gefragt sind. Dazu ist jede Esoterik zu rechnen, aber auch jede Trivialisierung von Neurobiologie oder Psychologie, hinter denen man solches Wissen vermutet, erhofft. Die Kunst aber hätte es und könnte viele Bereiche befruchten – auch die Medizin mit künstlerischen Therapien und im gemeinsamen Ausloten, wie sich Bewußtsein und Körper zueinander verhalten und wie ein Konzept von Heilung oder Gesundung wohl aussähe.
Teils geschieht dies heute schon verdeckt im Boom wahrlich breiter therapeutischer Methoden weltweit – aber über die Brücke des Bewußtseins zu gehen und unsere „Modulationen des Seins 1.+2.“ d.h. Wissenschaft und Kunst zu verbinden– geschieht nur seten. Es wäre schon, wenn dieser Band und unsere Kongresse auch dazu einen Anstoß und Beitrag leisten könnten.
3)
Kultur der Kunst - Musik als Bildung
Vortrag im Kongreß Demokratie und Kunst, Berlin,
Deutsche Gesellschaft für Ästhetik Juli 2001
Kultur der Kunst in der Moderne – Orte.
Die europäische Kunstentwicklung hat nicht nur dahin geführt, sinnliche Konzepte menschlicher Weltsicht in Musik, Malerei, Plastik und Darstellender Kunst zu entwickeln, sondern sie letztlich - und nach Ablösung von ehemaligen Funktionsräumen - an Orten zu präsentieren, die einzig dafür entstanden sind.
So kam es zu Theatern, Konzertsälen, Museen – wie wir vorgestern von Bundesminister Nida Rümelin hören konnten, sind z.B. fast die Hälfte aller Theaterbauten weltweit in den deutschsprachigen europäischen Ländern zu finden.
Häuser mit einer eigenen Funktion, aber auch eigenen Konvention der Rezeption – das galt nach der Form, aber auch nach dem Gehalt. Sie galten lange auch als Orte gesellschaftlichen Wertes und Repräsentanz.
Es sind oder waren Orte der Öffentlichkeit, in denen sich eine Gesellschaft im Spiel der Kräfte aus Publikum, Presse und letztlich auch Politik verständigte, welche künstlerischen Konzepte der Wirklichkeit als relevanter Beitrag in den gesellschaftlichen Diskurs aufgenommen wurden (und werden) und damit Themen dort und darüber hinaus relevant markieren.
So ist das System aus Theatern, Museen und Konzertsälen in Form repräsentativer gesellschaftlicher Zentralbauten gewachsen. Theater-, Museums- und Konzertskandale der Vergangenheit sind uns Zeugnisse, wie es mit den Theaterstücken eines Hauptmann oder Schnitzler, der Musik eines Anton Webern und den Bilder eines Schiele als Sichtweisen und Beiträge in diesen Pantheons gesellschaftlicher Selbstverständigung zuging.
Walter Benjamins frühe Beobachtung der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken konnte kaum in das wahrlich weite Feld einer Kunstentwicklung hineinsehen, das überhaupt die technische Produktion zur Grundlage machte und damit weitgehende Änderungen in der Kultur der Kunst auslöste.
Die Formen änderten sich – Darstellende Kunst fand sich auf dem screen und Fernsehbildschirm wieder, Musik auf Platten, CDs und im Rundfunk, die Malerei geriet auf Kunstdrucke und in Bildbände der Massenproduktion, zuletzt in virtuelle Galerien des Internet.
Die Gehalte änderten sich ebenso – Neue Erzählweisen entstanden und auch neue Bildsprachen, Musik konnte unter fast laborartigen Bedingungen im Studio zu einer unerhörten Perfektion aber auch neuem Klangerlebnis gebracht werden und zudem neue Tongebungsverfahren finden, die auch das „musizieren miteinander“ anders definieren; die Malerei wandte sich von der Konvention des Abbildes im Masse des Aufstiegs von Foto und Film ab, ebenso die Plastik.
Aber auch die Rezeption änderte und ändert sich: sie entbindet sich zunehmend von Ort und Zeit, wird globaler, vielfältiger, entbindet sich dabei aber auch von der gesellschaftlichen Konventionen eines Publikums, das als Mit-Spieler in den Häusern der Kultur – Theater, Konzerthaus und Museuum - die relevanten Themen solcher Weltsicht mitverhandelte.
Es ist als Käufer von CDs, Kinokarten, gezählter Museumsbesucher ein „Mitspieler der Füsse“ geworden, eine Markt- und Einschaltgrösse. Es hat sich geteilt und verteilt.
Das, was es zuvor an bestimmten Orten der Kunst sehen wollte und dort auch nur sehen konnte, ist heute vielfältig im Wohnzimmer, Bücherschrank, CD Player gleich und jederzeit erreichbar, konsumierbar.
Hier machen die Quantitäten der Produkte und ihr Preis auch die Qualität ihres Vorkommens in der Welt - denken wir beispielweise nur an den globalen Markt für klassische, westeuropäische Musikkonserven.
Der Zuschauer oder Zuhörer fällt heute in der Demokratie als Publikum - und nicht gering durch die Entwicklung der Kultur der Kunst in der Moderne bedingt - als soziale, politische Grösse aus dem Diskurs künstlerischer Weltsicht mehr oder weniger heraus und ist ebenso wenig in der Vielfalt der Formen und Gehalte des „verstehens“ künstlerischer Sprachen geübt oder gar kompetenter Dialogpartner und Mit-Spieler.
Bestenfalls als einzelner und Fachkundiger kommt er in Betracht – nicht aber als Publikum, wie wir es historisch kennen. Seine Rolle liegt vielmehr zwischen Verbraucher und Publikum, letzteres aber kaum mehr im Sinn gesellschaftlich konventionellen Mit-Spiels im Diskurs des Öffentlichen.
Aus dieser nur skizzenhaft aufgezeigten Entwicklung der Moderne wird deutlich, dass wir einen tiefgreifenden Wandel der Kultur der Kunst zu konstatieren haben.
Er geht - bezogen auf die Orte - vom repräsentativ Öffentlichen ins Feld privater Wahrnehmung und Geltung – teils durch die mediale Präsentation und Nutzung, teils durch Wandel von der Konvention des Publikums zum individuellen Konsum von Kunst.
So begegnen wir heute dem Individuum als der Stätte der Repräsentanz künstlerischer Empfindung. Der Körper mit der Vielfalt seiner Bildungsgeschichte ist selber im Verlauf der Moderne zum Ort der Kunst geworden.
Die Konvention des Privaten als ästhetische Grösse
Mit der Aufgabe der jahrhundertelang gültigen Konventionen des Abbilds in der Malerei, der gängigen Harmonien und Musikformen in der Musik, der Erzählformen der Einheit von Zeit und Raum sind für den Rezipienten aber auch den Produzenten von artefakten vor allem die subjektiven Auseinandersetzungen mit dem Überkommenen oder aber die subjektiven Bedeutungskonstrukte aus dem Erzählrahmen Kunst geblieben.
Das ist im Prinzip der status der Individuation, den die Moderne kennt und der auch in den Kommunikationswissenschaften – ich nenne Paul Watzlawick – für die Situation des Individuums konzidiert wird.
Wenn wir diese Situation der Idividuation und des Subjekts als Bühne – ich erinnere die Arbeiten von Martina Abramovic – und des kommunizierbaren Privatmythos als die bestmögliche Präsentation und Konvention des artefacts heute akzeptieren ( ich verweise auf die Materialien bei Joseph Beuys ) dann sind Herkünfte ästhetischen Kategorien neu ins Kalkül zu ziehen und die Konstitution künstlerischer und rezipierender Konvention gerade unter politischem Aspekt neu zu bedenken.
Kunst und Politische Gesellschaft
Von diesem Wandel ist auch der Stellenwert der Kunst in der öffentlichen Debatte der Demokratie stark betroffen. Es geht in der Kulturpolitik nicht mehr nur um eine Bereitstellungsdebatte – durch das Steuergeld aller, die eine Legitimationsdebatte sein kann.
Das war Thema der siebziger Jahre. Wenn es – wie dies Bundesminister Nida Rümelin zur Eröffnung des Kongresses meinte - um die Legitimation der Ausgaben der öffentlichen Hand in der Weise gehe, dass Kunst als Weltsicht überhaupt zu erhalten und damit zu fördern sei, indem man eben mit öffentlichem Geld Künstler und Werke fördert, dann stellt sich doch sehr die Frage, ob wir damit mehr eine Fertigkeit erhalten wie den mittelalterlichen Handwerker oder den Mantel des Kaisers, den wir auch mit öffentlichem Geld im Museum ausstellen, oder aber einen Beitrag zur Geltung von Kunst in der Gestaltung unsrer Gesellschafts- und Lebensverhältnisse, also auch zu unserer demokratischen Staatsform, dem Erwerbs- und Sozialleben, der Produktion von Lebensgütern oder auch der Natur- und Umweltfrage meinen.
Mein Eindruck ist, dass eben diese Frage, wie denn die Kunst als eine besondere Weltsicht eingreift in all jene Prozesse unseres Staats- und Gesellschaftswesen und warum sie eingreifen soll, in der Kulturpolitik wenig debattiert und schon gar nicht gelöst ist. Wir haben die Kunst als eine Grösse repräsentativer Öffentlichkeit übernommen. Das ist sie heute – bis auf wenige Ausnahmen abgesehen – nicht mehr.
Daher müsste im Blick sein, wie wir hier die Verständigung im Öffentlichen erreichen, denn das gälte als demokratischer Prozess.
Was hat hier die Kunst zu schaffen – was bedeutet sie in staatspolitischen und gesellschaftspolitischen Prozessen?
Das Individuum als Öffentlichkeit
Doch die größte Entpolitisierung der repräsentativen Orte künstlerischer Geltung schlägt heute im individuellen unversehens zur breitesten Wirkung künstlerischer Repräsentanz um.
Voraussetzung ist natürlich die in jeder Hinsicht omnipräsente Kultur der Medien und die wachsenden Einflüsse der Weltkultur auf jeweilige Kulturkreise. Die Medien sorgen durch die technische Reproduktion für grösstmögliche Verbreitung dieser „Bühne des Individuums“.
Das ist Realität, strukturell wie reell: die Shows des Privaten sind in den Massenmedien ebenso präsent wie in den weltweit erreichbaren private homepages. Dadurch kommunizieren sich auch ästhetische Kategorien.
Dies erreicht auch ästhetische Produktion selbst: wir kennen heute Internet Autoren, digitale Bearbeitungen im Format des PC screens aber auch Bands, deren Zusammenspiel eine Schaltungen zwischen entfernten Orten ist.
Die Idee des repräsentativen Raumes für Kunst, deren ästhetische Kriterien vom Publikum konventionell überwiegend akzeptiert wurden, transformiert sich in der Moderne mit zunehmender Aufgabe der Konvention und mit Individualisierung der Mittel und Botschaft.
Es definiert sich repräsentativ der Vorgang individueller Rezeption, resp. des Dialogs zwischen dem Künstler und dem Betrachter, dem Hörer. So konstituiert sich als Raum allgemeiner Geltung der Rezipient in Körper, Gefühlt und Verstand selber. Darüber hinaus schaffen die „Auftritte“ der Subjekte in den für alle verfügbaren Medien Öffentlichkeit.
Die Bühnen von heute sind neben Kino und Fernsehen vor allem das Telefon (besonders: Handy), Fax, Email und das Internet. Überall dort setzt sich die öffentliche Geltung des Privaten durch. Die Vervielfältigung des „Auftritts“ des Einzelnen im elektronischen Raum der Medien bringt dem Subjekt repräsentative Geltung.
Das Subjektive wird zum gültigen Ort und dem richtigen Raum der Kunst.
Neue Entwicklung in der anthropologischen Biologie geben uns gute Anhaltspunkte, den heute verbindlichen Raum der Kunst, nämlich die Subjektivität des Individuums, weiter aufzuschlüsseln.
Er läßt sich nicht mehr nur als erfahrungsgeprägter Raum definieren, dessen Gestaltungskriterien uns die Psychologien von Freud, Jungk ,Adler genannt haben.
Er läßt sich vielmehr als entstehender Raum definieren, wie uns heute die Entwicklungspsychologie, die Bewußtseinsforschung, generell die neuropsychologischen Wissenschaften berichten. Damit differenziert sich das Bild des individuellen Subjekts in die Konstruktion des Körpers, das Gedächtnis des Ichs und die kognitiven, mentalen und emotionalen Wechselwirkungen seiner Existenz.
Wir stehen heute vor einem analytischen Apparat der biologischen Wissenschaften, der für das Verständnis der künstlerischen Prozesse in Produktion wie Rezeption nicht ohne Folgen bleibt. Wirkung der Kunst, die Eindrücke über Sehen, Hören, Raumempfinden können nun in den Körper hinein verfolgt werden.
Doch gleichzeitig läßt sich mit Blick auf die allgemein individuelle Interpretation des Kunsteindrucks eine zweite Ebene ins Kalkül ziehen. Wenn die Konventionen eines Kulturkreises nicht mehr die natürliche Grenze der ästhetischen Rezeption darstellen, werden die künstlerischen Botschaften entweder Universalien der Kulturen suchen und penetrieren - solche Aufbrüche gab es auch jenseits von Hollywood, wenn wir an die Suche und Sammlung von Universalien des Gestus auf den Bühnen der Welt, der Klänge oder Rhythmen der Welt in immer neuen fusion Projekten oder des Erzählgestus der Bühne wie bei Peter Brook denken - oder aber werden sich auch auf Wirkungen verlassen, die anthropologisch allgemein gegeben sind.
So können wir beispielsweise Musik – kulturell betrachtet – auch beschreiben als eine spezielles „Spiel“ zur Stimulation der Psyche – und nicht nur dieser, wie noch zu zeigen sein wird – eine Stimulation, die für jeden menschlichen Körper weltweit gilt und in jedem nachgewiesen werden kann.
Individualität und anthropologische Konstanten – Biologie der Rezeption
Zwar ist jede Biographie eines Menschen besonders und strukturiert durch Veranlagung, Kulturkreis, Bildung und sozialen Rahmen, wie Intention. Doch teilt sie aufgrund der biologischen Gegebenheit mit jedem anderen Individuum der Welt auch grundlegende Disposition wir jene der neuronalen Zellenverbände, Hirnfrequenzen und die Zellchemie. Was uns z.B. als Kunst in Farbe, Form, Klang, Raum begegnet, was uns berührt, was auf uns wirkt, das nimmt den Weg über die Sinnesorgane des Menschen und die neuronale Steuerungsstelle des Gehirns.
Wirkung von Kunst ist also auch die Wirkung auf diesen Teil unseres Körpers. Dieser Teil ist aber zentral in der Konstitution des Bewusstseins unserer personalen Identität.
Jedes gesehene Bild, jede Farbe, jeder gehörte Klang, jeder erspürte Raum wird hier „wahrgenommen“, gespeichert und in Empfinden umgesetzt.
Wenn wir heute, nach der Dekade der Gehirnforschung und mit den Einsichten in die Hormonsteuerung und Neuroimmunbiologie über die Wirkung und Geltung der Kunst für den Menschen sprechen, so können wir deren neuronale Präsenz, die neuronalen Reflexe, die psycho-somatische Folgen nicht unbedacht lassen. Jeder Reiz durch Kunst nimmt diesen Weg zu dem, was sich als ICH empfindet.
Phylogenetisch müssen wir dabei konzidieren, dass dieses System unseres Bewusstseins eng verbunden ist mit der Erfahrungskonstitution des limbischen Systems im Gehirn des Menschen. Es ist das Unbewusste, von den Basalganglien, dem corpus striatum, globus pallidus, substantia nigra oder nucleus subthalamicus gesteuert.
Psychologische Forschungen bestätigen heute: bevor wir eine willentliche Position einnehmen, eine Entscheidung der Zustimmung oder Ablehnung fällen, hat das limbische System bereits untersucht und entschieden. Von dort kommt die Grundlage für die Aktivität der Grosshirnrinde, des präfrontalen Cortex, in der wir Nachdenken, Phantasie entwickeln, Sprache formen, Moral- und Wertvorstellungen entwickeln und die Steuerleute unseres Handelns zu sein glauben.
Prägend ist aber das emotionale Gedächtnis, das unser limbisches System früh aufbaut. Die noch vorsprachlichen, vorbewussten Eindrücke der Sinne, die Handlungserfahrungen, seit dem Mutterleib gesammelt, körperliches und emotionales Bewusstsein, diese werden zur Grundlage unserer weiteren Bildungs- und Handlungszugänglichkeit.
Darunter auch Farbe und Klang, buchstäblich vor allem aber das Hören. Hier werden schon z. B. schon durch die Tonwahrnehmung im pränatalen Zustand, durch die damit verbundenen körperlichen Reaktionen – es sind ja zwei Körper – bis hin zur hormonellen Ausschüttung Erfahrungen gemacht und gesammelt. Das müssen wir uns nicht abstrakt, sondern konkret als die Reaktion von Gehirnzellen, Botenstoffen und Hormonen und entsprechenden Reaktionen des Körpers vorstellen.
Dieses unbewusste Bewusstsein der Emotionen , eingelassen durch die Sinne, körperlich erfahren, ist das, womit die Künste primär arbeiten. Sie sprechen durch Farben und Formen, durch Körperlichkeit zu uns, auch durch Klänge, Melodien und Rhythmen.
Für jede Kultur, jedes Individuum sind sie zwar kontextuell und vielfältig zu differenzieren, doch physiologisch haben wir es mit ähnlichen Wirkungsmechanismen zu tun, jenen, die über die Sinne in unser limbisches System gehen.
Wenn wir also das Individuelle heute als die Bühne der Kunst verstehen, in der suprakulturelle Botschaften aufgenommen werden und uns auch multinormativ zu Artefakten unterschiedlichster Kulturkreise verhalten können, dann ist von Interesse, die Universalien der Rezeption wahrzunehmen.
Ich will damit nicht behaupten, dass die neurobiologischen die einzigen sind, aber doch wesentlich neben jenen des kulturellen Lernens und der sozialen Disposition.
Bildung von Physis und Psyche beim Kind
Das Wissen um die kindliche Entwicklung und um die Biologie des Menschen ist gewachsen: Neurobiologie, Immunbiologie, Chronobiologie, Emotionsforschung: sie alle geben uns neue und stetig mehr Hinweise, wie Musik und Bildung des Menschen zusammenhängen.
Man könnte hier eigentlich von „Tönung“ statt von der Bildung sprechen – doch in Bezug auf Zellen, Synapsen, Botenstoffe und die körperliche Seite ist das Wort Bildung im Sinne körperlich-geistiger Ausprägung ganz angebracht.
Die Wirkung von Musik auf das Zentralnervensystem und das Vegetativum wurde bereits in den sechziger Jahren in einer von Herbert von Karajan angeregten Forschungsgruppe ( Gerhart Harrer, Wilhelm Josef Revers, Walther C. M. Simon an der Paris-Lodron-Universität in Salzburg und Helmuth Petsche in Wien) untersucht.
Sowohl in diesen als auch in anderen weltweit publizierten Forschungsarbeiten wurden die Einflüsse der Musik auf Emotionen nachgewiesen.
Während die Funktionen des Gehörsinnes relativ weitgehend erforscht sind, sind die Kenntnisse über das System aus Vestibularapparat und den in der Körperperipherie gelegenen Propriozeptoren kaum vorhanden. Dieses System steuert jedoch neben Körperlage und Gleichgewicht auch die Koordination der gesamten Motorik. Dass es von Musik wesentlich beeinflusst wird, zeigen die körperlichen Reaktionen wie zur Musik tanzen, wippen, auch Muskelkontraktionen etc.
Wenn wir im Bewusstsein haben, dass sich das noch ungeborene Kind in seiner Gehörentwicklung ab dem vierten Schwangerschaftsmonat raumakustisch zu orientieren beginnt und bedenken, dass wir ohnedies ein sehr differenziertes auditorisches Wahrnehmungsvermögen haben, dann lässt sich leicht sehen, dass unsere Geräusch- und Tonwahrnehmung die allergrösste existentielle Bedeutung für uns hat.
Dies lässt sich bis in die Körperorganisation hineinverfolgen. Es bedeutet, dass unsere Persönlichkeit von ihrer identischen Klangwelt her lebt, ja sogar konditioniert ist.
Das System der Informationsspeicherung
Insgesamt schätzt man, dass ca. 100 Milliarden Neuronen des Gehirns mit über 100 Trillionen Verbindungen Kontakt halten. Erinnerungen werden von Neuronengruppen gebildet. Jede Verbindung davon hat das Potential, Teil einer Erinnerung eines Menschen zu sein.
Es scheint vor allem bei der Aktivierung darauf anzukommen, ruhende Neuronen-Netze im Gehirn durch eine passende Stimulation zu aktivieren. Der Speicherschlüssel scheint emotional und körperlich zu sein.
Offenbar kann das Musik in vielen Fällen und offenbar ist sie die ultimative Kulturleistung, die es bis zuletzt im menschlichen Leben vermag. Vermutlich, weil sie so eng oder tief mit wesentlichen Qualitäten unseres Seins verbunden ist: vom Herzrhythmus bis zur Raumorientierung, vom Bewegungsapparat bis zur emotionalen Struktur.
Dies Bild können wir komplettieren, wenn wir z.B. die Wirkung des Rhythmus auf das Gehirn und vor allem dessen Verbindung mit dem motorischen System des Körpers betrachten.
Das Gehirn, so hat es Michael Thaut am Zentrum für biomedizinische Musikforschung der Colorado State University, Fort Collins, herausgefunden, ist extrem schnell in der Lage, einen von aussen vorgegebenen Rhythmus zu adaptieren und in Bewegung umzusetzen. Das gilt für den gesunden Menschen.
Bei kranken Menschen wie Schlaganfall Patienten, Parkinson-Patienten, Alzheimer Patienten, brachte Musik entsprechender Qualität zustande, das bewegungsunfähige Menschen wieder laufen konnten, Gelähmte Klavier spielten oder Erinnerungslose mit einem Musikstück längst verloren geglaubte Ereignisse ihres Lebens wieder wussten, andere sprachen nicht mehr, begannen aber, zu singen.
Die Untersuchungen des Tübinger Neurologe Niels Birbaumer vertiefen noch den Einblick in die Zusammenhänge. Die Produktion und Beschäftigung mit Musik – so fand er heraus - hat einen dauerhaften Einfluss auf anatomische und physiologische Strukturen des Gehirns. Das gilt zumindest für jene Personen, die sich mit klassischer Musik beschäftigen oder aber Musik produzieren.
So zeigt sich bei Darbietung von komplexer artifizieller Musik, die von einem Computer nach Gleichungen des deterministischen Chaos erzeugt wurde, im Vergleich zu einfacher, repetitiver Pop Rhythmik, dass die Gehirnströme in Resonanz zu der dargebotenen Musik ebenso komplexe oder repetitive Muster im EEG bilden.
Bei Musikern, die klassische Musik spielen, fand man gegenüber Kontrollpersonen eine deutlich anatomisch ausgedehnte Korrelation des EEGs zwischen verschiedenen Hirnarealen in beiden Hemissphären: sehr viel mehr Areale müssen zusammenarbeiten, um produktive Leistungen zu erbringen...
Bei Musikern mit absolutem Gehör ist das planum Temporale vergrössert, bei Geigern sind die Areale der Hand im Kortex deutlich vergrössert.
Wie bedeutend die auditorische Wahrnehmung ist, zeigen auch die Untersuchungen der Psychologin Jenny Saffran von der Universität in Madison, Wisconsin. Sie entdeckte, dass soeben geborene Kinder über das absolute Gehör verfügen. Das hält bis zu einem Jahr nach der Geburt an und verflüchtigt sich dann wieder.
Alexandra Lamont von der Universität in Leicester fand heraus, dass Kleinkinder in der Lage sind, verschiedenste Musikstücke, die sie als Embryos gehört haben, auch noch ein Jahr nach der Geburt eindeutig wieder erkennen, ohne sie zwischenzeitlich gehört zu haben.
Kultur der Musik
Musik sehen wir als Kunst, die in der Entstehung und Wirkung eigenen Dimensionen folgen kann. Aber sie ist zugleich Teil unserer Kultur, entstanden, entwickelt, Teil unseres Wesens. Sie basiert auf dem menschlichen auditiven System unserer Erfahrungen, geht damit ins emotionale Gedächtnis und hat über die Jahrtausende eine eigene, kontextuelle Sprache der emotionalen Wirkung aufgebaut. Sie macht uns Gefühle und wir geben unseren Gefühlen damit Ausdruck. Wir nehmen sie über das Ohr auf oder auch über den Körper; die Sinnesreize gehen in das Gehirn und hinterlassen dort unauslöschliche Spuren. Die Musik geht in die Muskulatur, und lässt den Körper, das Herz, den Atem reagieren.
Damit wird deutlich, was auch für jeden anderen Rezeptionsvorgang wenngleich nicht immer in dieser Tiefe gilt: Musik generiert als Kulturform umfassendste, weil physische und psychische supra-individuellen Bedeutungsmuster im Menschen.
In der individuellen Biographie wird ganz früh schon die Bedeutung und Bewertung von Musik erfahren und im emotionalen Gedächtnis bewahrt. Mit jedem Musikeindruck wird dieses reichhaltiger und steht in der Bewertung und Empfindung jedes neuen Musikeindrucks prägend im Hintergrund.
Auf diesem Hintergrund tragen Klangeindrücke und Musik zur Prägung der menschlichen Existenz unmittelbar bei.
Da wir erkennen können, wie sich das Individuum in seiner Welt- und Raumbefindlichkeit durch die Klangeindrücke Eindrücke schon der frühesten Jahre bildet und dies vor allem physiologisch verorten können, liegt die pädagogische Frage an die Wirkung von Musik als Kulturation des Einzelnen auf der Hand.
Ich halte diese Einsicht, die wir der Neurobiologie verdanken, für ausserordentlich wichtig im politischen Sinn. Denn die Stimulation der Emotionen ist schon immer eine entscheidende Strategie auch politischer Beeinflussung gewesen. Die Musik in allen möglichen Variationen ist dabei sicher kein primäres System, aber doch entscheidend für die individuelle Befindlichkeit bis hin zur „Gleichschaltung“ z.B. der Hirnwellen.
Kultur der Gefühle durch die Kultur der Musik
Jede Musik hat auf Grund von Merkmalen ihrer klanglichen Struktur einen bestimmten Charakter. Dieser repräsentiert Grundformen menschlichen Verhaltens und Fühlens wider.
Musik, kann nicht nur einen starken Bewegungsantrieb ausüben, der in der Marsch- und Tanzmusik genutzt wird, oder umgekehrt den Organismus beruhigen, was Wiegenlieder aus aller Welt zeigen, sondern Musik kann auch Gefühle, insbesondere deren Dynamik, symbolisieren, sie kann Eile oder Ruhe, Kraft oder Zärtlichkeit ausdrücken.
Seit den Arbeiten Hevners (1936) sind Mittel und Formen des Ausdrucks in der Musik vielfach experimentell untersucht worden. Rösing (1993) gibt unter dem Titel „Musikalische Ausdrucksmodelle“ eine Übersicht über die Beziehungen zwischen strukturellen Merkmalen und ausgedrückten emotionalen Qualitäten.
Musik und Pädagogik
Musik, die über den Klang noch vor der Sprache gelernt wird, disponiert und womöglich entscheidender als die kognitive Sozialisation. Die Ästhetik und die Geisteswissenschaften sind an dieser Stelle herausgefordert, zu diskutieren, welche Konsequenzen hier für die pädagogische Konzeption unserer Kultur zu ziehen sind.
Diese Debatte ist sicher politisch bedeutend, denn sie könnte mit einiger Bewusstheit aus dem Wissen um die emotionalen Dispositionen des Individuums Konsequenzen ziehen. Für den Bereich der Ernährung ist es uns eine Selbstverständlichkeit, hier in Elternschulen, Kursen auf die Grundlagen der Ernährung hinzuweisen. Wenn wir nun die Bedingtheiten der physio-psychololgischen Bildung ebenso erkennen und den Anteil z.B. der Musik wissen, dann wäre es im positiven Sinn richtig, mit diesem Wissen bewusst umzugehen.
Wir haben es sicher nicht nur mit einer individuellen Bildungsfrage zu tun, sondern mit einer der Bildungsfragen der Demokratie oder auch des Sozialen überhaupt.
Bastian Studie in Schulen Berlins
Berühmt geworden, vor allem durch spektakuläres Medienecho, ist die sorgfältig über sechs Jahre erstellte Studie des Frankfurter Musikpädagogen und Kreativitätsforschers Hans Günther Bastian an Berliner Grundschulen.
Die einen Schülergruppen erhielten pro Woche 2 Stunden Musikunterricht, lernten ein Instrument und spielten gemeinsam in Musikgruppen. Die Kontrollgruppen- andere Klassen - hatten nur eine Stunde Musikunterricht und lernten kein Instrument.
Bislang hatte man vom Wert der künstlerischen, insbesondere musikalischen Bildung nur hoffnungsvoll sprechen können. Die Studie Bastians brachte erstmals konkrete Einsichten und dabei zwei beachtliche Ergebnisse: nach etwa vier Jahren Unterricht zeigen sich bei den Schülern mit vermehrter Musikbetätigung signifikante IQ Zugewinne, das gilt für schon zuvor intelligente Kinder ebenso wie für sozial benachteiligte wie kognitiv wenig geförderte Kinder.
Das zweite Ergebnis überraschte in seiner Eindeutigkeit selbst das team: Musikerziehung und Musizieren verbessert das soziale Klima in einer Klasse und darüber hinaus an der ganzen Schule.
Musizierende Kinder erwerben eine erfolgreichere Soziabilität als nichtmusizierende. Sie sind erfolgreicher in Bewältigung emotionaler Konfliktlagen, selber Musizieren lässt Gefühle der Agressivität, der Selbstunsicherheit besser bewältigen, die Identitätsbildung und das Selbstbewusstsein sind besser vorhanden, allerdings, wie die Kontrollgruppe zeigten, im gewissermassen nivellierten Verbund der musizierenden Gruppe, während in den Kontrollklassen stärker die dominanten Einzelnen in der Sympathiekurve langen.
Kultursysteme und Sozialisation
Der Trierer Professor für Soziologie, Roland Eckert, hat die Gewaltgenese bei Jugendlichen untersucht. Es geht ihnen um einen Gefühlszustand, der Aufregung, Abenteuer, Lustgewinn verspricht. Dieser Erlebnisraum wird gesucht. Traditionell findet er sich in den Arsenalen der Künste: die Katastrophenbilder der Hollywoodfilme, aus dem Fernsehen der Kommissar und seine Leichen, das ungemein kreative Horrorszenario aller Filme aller Kanäle und dazwischen, kaum unterscheidbar, die Bilder und Töne aus der sogenannten Wirklichkeit. Wie viele haben nicht die ersten Bilder des 11. September für einen Film gehalten.
Aufregung, Abenteuer und Lustgewinn – Libido des Lebens - kann sicher viele Wege finden, sich einzulösen. Nach Eckert liegt die Bandbreite zwischen Gewalt und künstlerischer Arbeit, also musischer Kreativiät.
In Diskotheken ist der Rave oder Techno Auslöser für Stresshormone, die so heftig durch die physische Präsenz der Musik auftreten, dass der Besucher ein körperliches und geistiges Hochgefühl bekommt. Auch hier Abenteuer, Aufregung, Lustgewinn.
Wir können inzwischen mit unserem eigenen Gehirn und den von dort ausgelösten Sensationen spielen.
Musik als Kultivierung
Sehen wir die neurobiologischen Tatsachen und die Ergebnisse von Bastians Berliner Langzeitstudie, dann gibt es wenig Grund, solche die Auswirkungen von Musikbeschäftigung zu trivialisieren in der Richtung „Musik macht intelligent“.
Wir sollten vielmehr die Kulturleistung der Kunst, hier der Musik, deutlich sehen. Ich hoffe, mit meinen Ausführungen einige gute Argumente für diese Betrachtung von Musik angeführt zu haben.
Es sind vor allem Argumente, die unser Verständnis von Musik als Kunstform nicht beinträchtigen, sondern erweitern. Sie machen uns verständlich, warum Musik zurecht die Zuschreibung Kunst verdient: sie bildet differenziert und tiefgreifend den Menschen. Hier ist Bildung im körperlichen und geistigen Sinn zu verstehen, genauer gesagt: es ist gleichzeitig ein körperlich-verstandesmässiger Prozess.
Da dem so ist, entsteht zurecht die bildungspolitsche Frage nach den Konsequenzen im Erziehungssystem. Die Antwort kann nun nicht einfach lauten: mehr Musikunterricht.
Die Antwort muss sein: mehr Musikunterricht, der aber anders. Anders kann nicht sein: weg von der Grund- und Hauptschule, hin zu den Musikschulen oder Spezialschulen für Musik. Musik gehört aus all den genannten Gründen mit zur zentralsten oder auch notwendigsten Ausbildung, die wir einem jungen Menschen angedeihen lassen können.
Unsere Musikkultur gehört dort schon mit hinein, denn sie hat ja durch ihre Differenzierung und ihren Reichtum diese Fähigkeiten mit ausgebildet.
Nein, wir sollten sie gerade aufgrund aller Einsicht unserer Wissenschaft als eine konstituierende Kulturleistung sehen und dementsprechenden Rang in unserem öffentlichen Bildungssystem geben.
Musik als ästhetische Anwendung
Für mich sind die jetzt schon vorliegenden Neuro-psycho-physiologischen Kenntnisse ein guter Hinweis, dass wir mit der Kunstform Musik ein kulturelles System vor uns haben, das uns ganzheitlich bildet. Das umfasst unsere Intelligenz, entwickelt unser Gefühl und auch das motorische System des Körpers..
Mir scheint es auch ein Zeichen, dass die Fragen, was unser Bewusstsein ist und wie wir unser Sein schaffen und dies auch reflektieren, immer enger in den physilogisch-psychologischen Zusammenhängen entdeckt wird.
Ergebnisse der anthropologisch-biologischen Forschung, besonders der Neuronalwissenschaften, lassen uns erkennen, dass wir uns kulturgeschichtlich hier Instrumente erschaffen haben, die dies besonders gut repräsentieren.
Es sind die Künste. Sie bewegen sich ebenso in rational wie emotional nachvollziehbaren Strukturen. Wir kommen in der Ausübung der Künste, besonders aber in der Vermittlung, heute nicht mehr um die Frage des Bewusstseins im zuvor geschilderten Sinn herum. Bei allem Respekt vor der Handwerklichkeit der Künste ist heute der Blick auf die Wirkung bei den Machern wie bei den Rezipienten gelenkt.
Für die Universitäten der Künste ist das der Anspruch, sich mit einer anthropologischen Ästhetik auch in biologischer Hinsicht zu beschäftigen. Wir sind gefordert, unsere Einsichten mit der eigensten Philosophie, der Ästhetik, anzugehen.
Musikerziehung und Gesellschaft
Für die Musikerziehung heisst das, ihre Bildungsziele aus dem Wissen um die Wirkung der Musik auf den Menschen neu zu verstehen und neu zu definieren. Sie soll den Menschen befähigen, sich selber in der Kulturleistung der Kunst an sich und mit sich zu sehen und zu empfinden. Dies geschieht mit dem Verstand und mit dem Körper. Es sind seine Eindrücke vom Leben, seine Gedanken über die Welt.
Die Künste werden im Lern- und Wachstumsprozess Bildungserlebnisse, aber physiologisch sind sie auch elementar bildend.
Dies ist eine Kulturleistung der Menschenbildung, die das reine Wissen um die Musikgeschichte, musikalische Formen oder die Beherrschung eines Instrumentes weit übersteigt. Musikerziehung kann sich nicht auf Lernstoff reduzieren. Sie gründet auf und kreiert einen genuinen, existentiellen Erfahrungsraum im Menschen.
Hier sehe ich die dringliche Aufgabe der demokratischen Gesellschaft und der Kulturpolitik, aus diesen Einsichten Konsequenzen zu ziehen. Nach der Pisa Studie dürften ohnedies die Kriterien des Lernens und der Wissensinhalte hierzulande auf dem Prüfstand stehen. Die wichtige Folgerung scheint mir dabei zu sein, dass wir – und aus diesem Grund die Sorgfalt und Fülle der neurobiologischen wie soziologischen Daten – den Erfahrungen künstlerischen Lernens bildungspolitisch den Platz einräumen, der gleichsam kategorial soziales Miteinander, Komplexität des Lernens und Handelns, soziale wie individuelle Kompetenz generiert und dazu noch die Komponenten der Individualität einbezieht.
Ich halte Erziehung in diesem Bereich für eine wesentliche Vorstufe demokratischer Kompetenz – die Stabilität oder auch Labilität der Persönlichkeitskomponenten sind immer die Voraussetzungen für politisches Verhalten. Zwar kann die Kunst dieses nicht führen – und bitter lassen sich hier die geschichtlichen Erfahrungen der Kulturnation Deutschland von 1933 bis 1945 anführen – aber doch formen und bilden.
Betrachten wir Kunst nicht als ein besonderes Privileg einiger, dem die Demokratie Transmissionsagentur ist, damit viele partizipieren sollten, sondern betrachten wir Kunst als eine Sicht- und Seinsweise , für die es Kulturformen gibt, die auch unser Miteinander und Füreinander bilden.
Es liegt an uns, ob wir solchen Erfahrungen trauen und sie zum Allgemeingut unserer Bildung machen, damit sie als Erfahrungs- und Entscheidungsprinzip fördern – oder aber Kunst als den Ausnahmefall sehen, der durch Partizipation „demokratisiert“ werden kann.
Die Zeit wäre reif für ersteres und handfeste Daten der Anthropologie liefern gute Argumente dafür. Es bleibt die offene Frage (und es wäre die Konsequenz), ob Demokratie Kunst als Gestaltungsprinzip einbeziehen will, ohne damit gleich die Kunst demokratisch zu machen.
Ebenen der Musikwahrnehmung
Die Musikrezeption beinhaltet allerdings viele Wahrnehmungsmöglichkeiten, die sich der sehr differenzierten Kulturpraxis Musik sehr verschieden annähern können. Doch mählich lüftet sich das Geheimnis der Kunstschöpfung – nicht nur durch eine Entzauberung in der Musikästhetik, die heute sehr konzeptionell mit der eigenen Tradition umgeht und damit für die Hörgewohnheiten der Zeitgenossen auch völlig befremdlich werden kann - sie müssen als Laien sozusagen in die Zukunftswerkstatt des Schöpfens schauen.
Wir erinnern uns natürlich, dass es auch in der bildenden Kunst ebenso nicht ohne Friktionen und Skandale abging – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir hier keine so massiven biologischen Prägungen zu berücksichtigen haben.
Es lüftet sich auch das Geheimnis des Schöpferischen der Musik in dem Sinn, dass die Wirkung nicht numinos bleibt, sondern in der neurophysiologischen Rezeptionsforschung beschrieben werden kann.
Es ist nicht der Fall – vor allem nicht heute beim derzeitigen Stand der Forschung – dass die Beschreibung irgendwie ein Urteil fällen könnte über die Ästhetik der Musik. Sie kann nur urteilen über die körperliche Wirkung und das rezeptive Feld und über die Disposition, auf die das Hören von Musik trifft.
Wir haben hier die Möglichkeit zu diskutieren – der Kongress heisst Kunst und Demokratie - von einer kunstimmanenten Musikauffassung zu einer gesellschaftlich reflektierten, also zur Einschätzung der KULTUR DER Musik zu kommen.
Musik und Gesellschaft
Es ist aber der Fall – wir wissen es aus der Geschichte – dass Musik natürlich immer funktionalisiert worden ist – zu Festen, zu Aufmärschen, zum Tanz, für den Glauben – doch können wir heute besser verstehen, auf welche physio-psychologische Funktionen sie sich stütz und wie diese ausgelöst werden.
Kaufhausmusik, Bahnhofsmusik, Musik in Wartezimmern, Musik beim Fussball, Musik überall – wir können heute durch die Rezeptionssoziologie, die Entwicklungspsychologie und die Neurobiologie die Disposition durch Musik besser verstehen.
Es ist gewiss eine beachtliche Kulturleistung, hier ein individuell generierbares ästhetisches Produkt für die individuelle wie soziale Stimulation geschaffen zu haben, das wie eine sehr umfängliche Sprache viele Ebenen der Bedeutung transportiert, dennoch basal ähnlich wirkt und damit hochgradig sozial funktioniert.
4)
Die Kinderprag
Kinder und Eltern planen ein KinderhausZukunftswerkstatt im Haus 49
Stuttgart-Nord (Auf der Prag)
vom 19.-21. Juni 1998
Eine Initiative der Stadtverwaltung Stuttgart
(Referate Kultur, Bildung, Sport - Dr. Roland Haas -
und Soziales, Jugend und Gesundheit - Michaela Bolland - )
in Zusammenarbeit mit der Stadtteilkonferenz Stuttgart Nord,
dem Info-Laden e.V., dem Haus 49 sowie
Fachkonferenzen Stadtentwicklung und Bildung/Erziehung/Kultur
lokale agenda 21 für Stuttgart
Protokoll und Bürgergutachten
Moderation:
DR. WALTER HÄCKER – Berater für Organisationen und Unternehmen
Mühlstraße 8 73650 Winterbach Tel. 07181/45576 Fax 07181/45482
dr.walter.haecker@web.de
Impressum:
Wesentliche Teile des vorliegenden Protokolls:
Renate Könn
- Dipl.Soz.Arb., Dipl.Verw.Wiss.
- Sozialplanerin am Institut SozialPlan, Weingarten,
tel/fax 0751/54355
Überarbeitung des Protokolls (incl. Verantwortung für Tippfehler): wh
Planung und Durchführung der Werkstätten mit den Kindern:
Elfriede Irlbeck, tel/fax 08158/7046 und
Monika Schlecht, tel/fax 0711/681318 und 08857/393
- Studentinnen der Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München
Abteilung Benediktbeuern
Mitarbeit bei der Kinderwerkstatt:
Christine Schäfer, Bärbel Riepp, Gudula Niemann, Simone, Nicolette, Christian;
- Studentinnen und Student der Fachhochschule für Kunsttherapeuten Nürtingen zusammen mit dem
Dozenten Andreas Mayer-Brennenstuhl
Winterbach im Juli 1998, © Walter Häcker
Zur Methode Zukunftswerkstatt
Seit über 20 Jahren werden Zukunftswerkstätten, “Future Workshops”, die insbesondere durch Robert Jungk und Alvin Toffler bekannt wurden, vor allem in den USA und Deutsch¬land veranstaltet. Sie erwiesen sich bei entsprechender Moderation als äußerst motivierende und kommunikative Prozesse zur gemeinsamen Entwicklung von Szenarien. Ideen blühen auf und es entsteht die Bereitschaft zum eigenen Einsatz. Die Protokolle von Zukunftswerkstätten sind die Gutachten einer aktionsorientierten Zukunftsforschung, die mit einer partizipato¬rischen sozialexplorativen Methode gewonnen werden.
Die Moderation gibt die in den Arbeitsabschnitten verwendeten Methoden und Arbeitszei¬ten vor. Die dabei verwendeten vielfältigen Moderationswerkzeuge sind aus anderen erwach-senenpädagogischen Kontexten alle bekannt, spezifisch für die Zukunftswerkstatt ist ihr Zu-sammenspiel in der Abfolge von methodisch eher emotional-intuitiv betonten Seminarphasen mit rational-analytischen Arbeitsschritten.
Die eigentliche Zukunftswerkstatt läuft als pädagogisch-psychologischer Prozeß in einem Dreischritt - Kritik, Utopie und Realisierung - ab. In der Kritikphase wird all das zum Thema gesammelt, was Sorge bereitet und Anlaß zu Änderungswünschen gibt. Daraus wer¬den im Sinne einer Katharsis kritische Aussagen überspitzt, und gelegentlich sogar ungerecht, formuliert. In der Umkehrung der Kritik ist dann das Wünschenswerte zu erkennen, zu dem spielerisch-phantasievoll Utopien entwickelt werden. Die eigene Erfahrung mit der Utopie, der Zeit, “in der das Wünschen noch geholfen hat”, wie es im Märchen heißt, ist das Kern¬stück der Zukunftswerkstatt. Aus diesen beiden Schritten kristallisiert sich ein Weg, ein kon¬kreter (und oft überraschend ausgefeilter) Plan (siehe S. 15-20 dieses Protokolls) und eine mit persönlichem Engagement verbundene Bereitschaft zur Mitarbeit an der Realisierung des Wünschenswerten heraus … eine permanente Werkstatt schließt sich an. wh
Struktur und Ablauf der Zukunftswerkstatt “Kinderhaus”
Innerhalb der 2 Tage fanden 2 Werkstätten statt: Eine Werkstatt für Kinder (Motzen - Spinnen - Action) und eine für Erwachsene. Auf diese bezieht sich auch das vorliegende Protokoll. Die Ergebnisse der Kinderwerkstatt wurden gesondert dokumentiert.
Erwachsene Kinder Gemeinsam
Freitag
18.30 - 21.00 Vorphase: Gegenseitiges Kennenlernen der Teilnehmer/innen und des Planungsbereiches
Kennenlernen der Methode “Zukunftswerkstatt”
Samstag
9.00 - 11.00
12.00 - 14.00
14.00 - 16.30
17.00 - 18.30
Kritikphase
Utopiephase
“Motzen”
“Spinnen”
(Träumen)
Mittagessen + Pause!!!
“Fest der Visionen”
Sonntag
10.00 - 13.00 Realisierung
“Action”
“Bauen”
Modellbau Ideen entwickeln aus dem bereits Erarbeiteten und
den Modellen der Kinder
Teilnehmerinen und Teilnehmer an der Werkstatt der Erwachsenen
An der gesamten Werkstatt haben 20 Erwachsene teilgenommen. Der “festen Gruppe”, d.h. denjenigen, die alle 3 Tage dabei waren, gehörten ca. 10 Personen an. Zu den Teilneh¬mer/innen gehörten u.a. eine Architektin, Vertreter/innen sozialer Einrichtungen im Stadtteil und des Jugendamts, Sozial- und Städteplaner, Vertreter der Kirchen, der Bezirksverwaltung, des Referats Kultur und interessierte Bewohner und Bewohnerinnen.
Der erste Tag: Kennenlernen
Kennenlernen untereinander
Durch Kärtchenabfrage (Name, Gruppe/Organisation, Kinder, Beruf, Erwartungen an die Zukunftswerkstatt) stellten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einander vor und erzähl¬ten sich dann je eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Viele berichteten vom Aufwachsen auf dem Land, von Freiräumen für Spiel und Abenteuer.
Aufgabenstellung und Kennenlernen des Gebiets
Im Zuge des Großprojekts Stuttgart 21 soll hier im Stadtteil eine Fläche der Bahn AG um-genutzt werden. Es soll ein neues gemischtes Wohngebiet entstehen mit Raum für ca. 5000 Einwohner. Neben dem neu geplanten Wohnraum müssen auch verschiedene soziale Einrich-tungen neu errichtet werden (Schulen, Kindergärten etc.). Um hier neue Wege zu beschreiten haben das Referat Kultur, Bildung, Sport und Soziales, Jugend und Gesundheit in Zusam-menarbeit mit der Stadtteilkonferenz Stuttgart Nord, dem Info-Laden e.V., dem Haus 49 und der lokalen agenda 21 für Stuttgart eine Initiative gestartet mit dem Ziel, eine bewohnerorien-tierte Neuentwicklung, die vor allem den Bedürfnissen von Kindern gerecht wird, zu entwickeln.
Das Jugendamt muß für dieses neue Viertel u.a. auch den Bau neuer Kindergärten veran-lassen. Man geht von einem Bedarf an ca. 6-8 Gruppen aus. Daneben gibt es Bedarf für die Arbeit mit Kindern. Das Jugendamt will hier jedoch nicht mehr auf die klassischen Kindergärten setzen, son¬dern man will eher in mehrfach nutz¬bare Einrichtungen investieren. Dar¬aus resultiert die Idee “Kinderhaus für Klang, Farbe, Spiel”, das ver¬schiedene Angebote (von der Krab-belgruppe, Kindergarten, Hort bis hin zu einem offenen Freizeit- und Kul¬turbereich) beinhaltet und für Kinder von null bis zwölf Jahren konzipiert ist.
Absicht der Stadt Stuttgart ist es, in dem Gebiet C1 (nördlich der Prag, im Blickkontakt zur Weißenhofsiedlung) den Wettbewerb zu einer Internationalen Bauaus¬stellung (IBA) auszuschreiben. In dieser Zukunftswerkstatt sollen die Anforderungen und die Wünsche der Bewohner des Stadtteils an ein dort zu bauendes Kinderhaus erarbeitet werden.
Kärtchenabfrage
“Was gefällt mir / was gefällt mir nicht an der Prag?
Die Teilnehmer/innen wurden aufgefordert 3 Kärtchen dazu auszufüllen. Die Kärtchen wurden beim Anpinnen zu Gruppen zusammengefaßt und durch Punkte bewertet.
Erste Ergebnisse: Sehr gut gefiel den Anwesenden, daß auf der Prag Menschen aus unter-schiedlichsten Kulturen Wege gefunden haben miteinander zusammenzuleben. Das Leben hier hätte die Vorteile einer dörflichen Struktur, man lebt mit- und weniger gegeneinander. Vieles würde sich auf den Straßen und in den Parks abspielen. Es gäbe einige gute soziale Einrichtungen (u.a. das Haus 49). Die Stadtgestalt wäre ansprechend und würde zur allgemein guten Stimmung im Stadtteil beitragen.
Negativ wurde beurteilt, daß es wenig Freiflächen und Freiräume für Kinder gibt und die Luftqualität sehr schlecht sei (Smog von der Innenstadt legt sich an manchen Tagen auf die Prag). Auch das Image des Viertels sei weniger gut.
Weitere Nennungen bezogen sich auf schlechte Einkaufsmöglichkeiten und Kneipen, die erlebte Bedrohung durch Stuttgart 21 und Schwierigkeiten bei der Suche nach Investoren und Sponsoren im Stadtteil, die bereit sind, in ihrem Stadtteil auch finanzielle Verantwortung zu tragen und Gruppen oder Aktionen zu unterstützen und durch Spenden überhaupt erst zu er-möglichen.
Vorstellung der Zukunftswerkstatt (ZW)
Der Moderator stellte kurz die Methode ZW vor und deren Ablauf:
Kritikphase - Utopiephase - Realisierung.
Der zweite Tag - Kritik und Utopie
Einstimmung durch Musik aus Haydn “Die Schöpfung” - Vorstellung des Chaos
Die Kritikphase
In der Kritikphase wurde von zwei Ausgangsfragen ausgegangen:
1. Denk’ daran, welche (fehlenden) Möglichkeiten die Kinder auf der Prag haben …
2. Denk’ an die Situation der Eltern und Erwachsenen, die mit Kinder zu tun haben …
• Was stört dich?
• Was macht dir Angst?
• Was macht dich wütend?
2. Offene Kärtchenabfrage zur Kritik
Sammlung der Karten in der Mitte des Stuhlkreises, Gruppierung durch gesamte Gruppe auf dem Boden.
Gruppierte Schwerpunkte der Kritik:
Schwerpunkt Anzahl der Nennungen daraus gewichtete Karten durch die Teilneh-mer/innen (• = Anzahl der Nennungen, Kärtchen, die nicht gepunktet wurden, wurden hier nicht dokumen¬tiert) anschließende Gewichtung durch die Teilnehmerinnen und “Slogan” für den Kritik-bereich
Freiräume 24 Die Schulhöfe sind nicht für Kinder geöffnet. ••
Es gibt mehr Fläche für Parkplätze als für Kinder. •
Fehlender Raum - “Freiräume”. •
Einfallslose Spielplätze. •
kein Platz. ••
Ausgewiesener Spielplatz wird umgewandelt? •
keine Gärten und Natur für Kinder •
Kinder haben Beeinträchtigungen durch Ansprüche von Erwachsenen. •
Kein Abenteuerspielplatz - Kontakt zu Tieren usw. • 12
kein Platz für Kinder
Frauen 5 Diskriminierung von Mädchen. ••
Mütter ziehen sich verstärkt auf klass. Frauenrolle zurück • 3
KKK Kinder, Konsum, Küche
Politik 8 bei Stadtplanung haben Familien keine Lobby •••
Kinder haben keine politische Lobby •
Politik nimmt ihre Gesamtverantwortung nicht ernst •
Es fehlt der Ombutsmann/-frau • 6
Kinder haben keine Lobby
Geld 6 Profit der Investoren ist wichtiger als Investitionen für Kinder ••
Den Jugendhäusern fehlt das Geld • 3
money makes the children play
Defizite der Einrichtun-gen 7 Kinder können zuwenig Gesellschaft erproben ••
flexible Betreuung fehlt •
keine soziale Mischung bei den Tagheimen •
keine öffentl. Kinderkultur/ kein Bewußtsein dafür •
Brüche (Krabbelgruppe, Kleinkinderheim, Kinder-garten, Schule) • 6
kleine Kiste
Kinderfeind-liche Ein-schrän-kungen 8 fehlende Toleranz ••••
Alte Menschen mit einbeziehen geschieht nicht ••
Wenn Kinder nach 20.00 Uhr auf der Straße sind, wird die Polizei gerufen • 8
Architektur der Hausmeister
Vorurteile 3 Schlechter Ruf des Nordbahnhofs • 1
Nordbronx voller Schmud-delkinder
Kinder 5 keine Möglichkeit Aggressionen abzureagieren ohne daß andere gestört sind •••
Fehlende Perspektiven für Kinder und Jugendliche ••
steigende Konsumansprüche (Eltern und Kinder) ••
Wenn man schon nicht selbst bauen kann, dann wenigstens Bauten zerstören • 8
Ruhe! Haut ab!
Eltern 15 Unerfahrene Eltern •
keine Gespräche mit Kindern ••
Kinder werden oft zu früh einem Leistungsdruck ausgesetzt •
Entspannung, Mittagspause
Zeit für Plausch: Zeit für fliegende Kulturreferenten, für Mütter, die sich mal fallen lassen können, schwankende Bezirksdirektoren, faule Eier, Füchse und Hasen.
Und Zeit fürs gemeinsame Essen mit den Kindern.
Gleich sind die Spaghetti fertig …
Die Utopiephase - Alles ist möglich!
Einstimmung durch Musik aus Haydn “Die Schöpfung” - Rezitativ und Chor: “Im An¬fang schuf Gott Himmel und Herde “ - “Und der Geist Gottes schwebte über der Fläche der Wasser” - “Und Gott sah das Licht”
Aus der Kritik ... wurde die Utopie! So viele der Teilneh-mer/innen hatten Lust an dieser Utopie mitzuarbei-ten: Und diese 4 Gruppen ka-men dann zustande:
kein Platz für Kinder So schön ist Panama auf der Prag 5
Architektur der Hausmei-ster schöner wohnen mit Kin-dern 4 G1: “Frei+Raum”
Nordbronx voller Schmud¬delkinder Kinderparadies auf der Prag 4
KKK Kinder, Konsum, Küche FFF Frauen, Friede, Frei-heit 2
kleine Kiste eine Große Welt 4 G2: “Eltern”
Eltern Lehrt euch! Keine Zeit zum eltern (sic!). Erwachsene Eltern 1
money makes the children play children make the money play 7 G3: “Geld”
Kinder haben keine Lobby Der Jugendrat regiert 4
G4: “Politik”
Ruhe! Haut ab! Laßt die Kinder und wehret ihnen nicht 5
Spielregel:
Die Teilnehmer/innen der jeweiligen Arbeitsgruppen sind für sich und ihre Gruppe selbst ver-antwortlich. Sie sollen zu ihrem Thema eine Präsentation erarbeiten - Art und Weise ist frei gestaltbar. Zeit: 15.30 bis 17.00 Uhr, dann Treff im Plenum bzw. Koordination der jeweiligen Präsentationen.
Die Prag der Möglichkeiten - Präsentation der Utopien
“Wir schreiben das Jahr 2008”. 10 Jahre sind seit der Zukunftswerkstatt vergangen. Die Prag ist heute bekannt als der kinderfreundlichste Ort in ganz Europa. Wie immer bei festli¬chen Anlässen beginnt auch heute das Fest mit einer kleinen musikalischen Einlage:
Der Stadtteilchor singt exklusiv
Das “Wir machen was zusammen” – Lied
Wir machen was zusammen, noch ist es nicht viel,
Wir machen was zusammen, erst mal im Spiel.
Laß’ es ruhig schief geh’n, jeder fängt mal an,
Wir machen was zusammen, wir bleiben dran.
Wir machen was zusammen, dann kommt was raus.
Wir machen was zusammen, für unser Haus.
Die Architekten schauen, wie wir das Haus gebaut.
Wir Kinder wollen sehen, ob ihr euch traut:
Ein Kinderhaus zu bauen, für Farbe, Klang und Spiel.
Ein Ort zum Spielen, Lernen, da gibt es nie zu viel.
Hat Platz für Klein und Große, für Eltern Kind und Maus.
Bald bauen wir zusammen das neue Kinderhaus.
So höret jetzt am Ende, noch unsere große Bitt’:
Nehmt bei Eurem Planen auch uns Kinder mit
Laßt uns mit entscheiden - es ist ja unser Haus
Drum bitten wir euch herzlich, der boy, das girl, die Maus.
Die Kinder entwickeln Wünsche
Kinder zeigen, wie sie sich “ihr Kinderhaus” wünschen
Ein Interview mit der Architektin Laura DeVinci und Robin Hood:
Teil eines Kinderhauses, das nur von Kindern betretbar ist
Die Architektin stellt ihr Projekt Robin Hood vor: Es wird Bäume geben, ein Schwimm¬bad mit Rutsche, Wasser, Rutsche, Tiere. Das Kinderhaus ist größer, hat größere Räume.
In den Räumen liegt eine Schicht Säge¬späne: Weshalb? “Weil dann das Hinfal¬len nicht so weh tut.” - So wurde der Begriff “Erlebnisfußboden” entwickelt.
Der Karate–schüler Chan
wünscht sich im neuen Kinderhaus einen Ka¬ratelehrer, weil er oft Angst hat und dann traut er sich besser.
Die Wunschfee
wünscht für die Kinder ein Riesenhaus mit ei¬ner Küche, einem Fußballfeld, einem Computerzimmer, Kin¬derzimmern, Schwimmbad und Garten.
Die Kinderburg
Eine andere Gruppe stellt ihre Kinder¬burg vor. Dazu hatten sie eine große Collage gemacht, damit
die Erwachsenen sehen, wie es in¬nen und außen sein soll.
Außen gibt es Autos für den König und Haustiere der Prinzen, Statuen wo Wasser rauskommt, ein Polizei¬monster.
Drinnen gibt es viele Königs- und Königinnenzimmer mit Papageien und Mr. Bean. Ein roter Teppich ist auch da und eine Disco, wo sich die Königskinder vergnügen, eine Werk¬statt, in der sie wichtige Dinge bauen, und eine königliche (gebührenfreie) Telefonzelle mit Garten. Selbstver-ständlich darf auch eine Schatzkam¬mer nicht fehlen und die Goldmine. Der König hat viele verschiedene Uh¬ren und Videospiele sowie ein Flug¬zeug.
Von außen sieht die Burg so aus: Ein goldenes Dach mit Uhr zeigt allen, daß das die Kinderburg ist. Drei Ein¬gänge führen hinein und sind mit ei¬nem roten Teppich ausgelegt. Der Zaun ist aus Zinnen. In den Zwischenräumen der Zinnen schauen Leute durch. Die Außenwände sind bunt bemalt. Am Dach ist eine Schaukel befestigt.
Die Bauarbeiter - ein Entwurf in Ton
Das Kinderhaus steht in einem großen Gelände, ein Fluß fließt durch, ein Schwimmbad gibt es auch, eine Rutsche und eine Leiter.
Im Haus gibt es einen Kegelplatz und einen Matschraum, weil es Spaß macht mit Lehm und Ton
Die Ideen der Erwachsenen
Politik im Jahre 2008
2008 gibt es ganz andere Erwachsene, sie schimpfen nicht mehr, sie sagen nicht immer, die anderen sollen was tun, sondern tun mal selber was.
Im Rathaus ist alles an den Kindern und Jugendlichen orientiert. Der Jugendrat ist das wichtigste Or¬gan der Stadt. Seine Beschlüsse sind wegweisend.
Das besondere am neuen Kinderhaus ist seine Flexibilität. Es ist eine permanente Werkstatt. Monat¬lich verändert es sich innen wie außen.
Das Gelände der Bahn AG gehört den Kindern und Jugendlichen.
Straßenbahn und Busse sind kostenlos für Kinder und Jugendliche.
Finanziert wird das alles , weil nun die Kinder und Jugendlichen keine Drogen mehr brauchen. Das Geld der Mafia wurde beschlagnahmt und für die Prag verwendet.
Oh wie schön ist Panama
In Panama gelten eigene Gesetze! Es gibt keine Zeit, es gibt nur das Jetzt, man trifft die Menschen, die man treffen will, lebt mit Tieren zusammen, es gibt viele Umwege, Wasser, alles ist sauber: das Wasser, die Natur, das Essen. Es gibt Möglichkeiten, neue Techniken auszuprobieren. Viel Platz und viel Unfertiges! Alles ist veränderbar und kann immer wieder neu erschaffen werden.
“Da brauchen wir nie, nie wegzugehen!” (Frei nach Janosch: Oh, wie schön ist Panama)
3 Frauen im Gespräch
Eine Frau erzählt zwei anderen Frauen von ihrem neuen Wohnort- ein Projekt. Die Häuser sind flexi¬bel und steckbar. Wenn also mal die Oma kommt, steckt man noch ein Zimmer an - kein Problem. Äl¬tere Leute, die mehr Ruhe wollen, können ins Kloster ziehen, so stören sie die Kinder und Familien nicht. Andere ruhebedürftige Leute können dort auch hinziehen. Autos gibt es im Viertel nicht - nur außerhalb. Für Einkäufe und Lasten verkehrt ein Zug im Viertel - man braucht keine Kisten schleppen. Läden und Schwimmbad sind 24 Stunden geöffnet.
Die Kinder werden von den Eltern betreut. Ansonsten muß sich jeder an der Gemeinschaft beteiligen.
Größere Entscheidungen trifft ein Rat, z.B. wenn jemand zuviele Steckzimmer will. Schule gibt es nicht, sondern ein Lernhaus. Dort unterrichten Eltern Kinder, sofern die das wollen.
Bei Streit zwischen 2 Familien wird ein Schlichter angerufen.
Die Auswahl zwischen Kloster und Familienwohnort ist den 2 Frauen doch noch etwas fremd. Man muß mal überlegen...
Money, money, money
Szene 1
Im Jahr 2008 haben fast alle Erwachsenen gerontologische Probleme, und die Innenstadt ist fast menschenleer. Die Erwachsenen sind unfähig, die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen, und deswegen durch Kinder ersetzt worden.
Picolino der Stadtbaumeister (Höchstalter 11 Jahre) im Gespräch mit Rezzo Pianilo:
RP: Warum werden all unsere schönen Planungen unsere Denkmäler und unseren schönen Fassa¬den? Warum wird das jetzt alles nicht gebaut?
P.: Wir brauchen das nicht - von den Kindern aus gesehen können die Erwachsenen ihren Marmor wieder mitnehmen.
RP: Und all die schönen achtspurigen Staßen?
P.: Überflüssig. Heute haben in Stuttgart gerade mal noch 30 Menschen einen Führerschein. Wege für Inline-Skater und Radfahrer sind wichtiger.
RP: Ja aber die teuren Restaurants, die Zoos die Parks mit den Blumenanlagen...
P.: Nicht wichtig. Tiere fühlen sich da eh nicht wohl. Bauernhöfe sind da viel besser.
Szene 2
1998. Stuttgart 21 ist noch in Planung. Ein Ausschnitt aus einer Sendung des Stuttgarter Fernsehen, die Geburtsstunde des neuen Stuttgarts.
Im Gespräch sind Bürgermeister Gockel und Großinvestor Deilchen, Moderation Biene Maja.
BM: Was soll aus diesem Projekt entstehen. Was ist da stadtkulturell möglich?
D: Ein Multiplex-Kino, Parkplätze - ein Kino also für die ganze Republik. Das brauchen wir.
G: (Glaubt sich an einen Auftrag aus der Bürgerschaft zu erinnern.) Irgendwas war da je von wegen Kindern... Irgendwie wollte man etwas machen, Kultur fördern ... Lernen, das Spaß macht
D: Wir haben da weitergedacht und die Ideen verbessert. Ziel ist die Bücherei des 23. Jhd. Hat keine Bücher mehr. Alles modern, virtuell und ganzkörperstimulierend.
BM: Wollten wir nicht mal etwas für die Kinder machen?
G: Ach ja die Kinder... Es gab da mal so ’ne Gruppe um den Nordbahnhof ...
D: Ja aber die Ideen - war alles noch so unklar. Wir haben dann überlegt das alles muß professionel¬ler sein. So ne Art Kinder shopping mall, das wär’ ’ne Sache
BM: Wollten wir nicht mal einen Freiraum für Kinder anbieten?
D: Ja da war mal so was überlegt, so mit einem Kinderkulturzentrum, aber wir denken, Kinder lernen in modernen Schulkomplexen ja viel besser. Alles andre ist Kinderfasching. Das muß ja alles auf das nächste Jhd.
Nach Ausstrahlung dieser Sendung, die seltsamerweise nur von Kindern angeschaut wurde, übernahmen die Kinder die Macht und jagten die Erwachsenen fort.
Szene 3
Stadtbaumeister Pincolini im Gespräch mit Humpi-Pumpi, der den Auftrag bekommen hätte, wenn die Kinder die Macht nicht bekommen hätten.
P: Das dahinten was ist das?
HP: Das ist ein Sprachlabor, damit die Kinder lernen können.
P: Und die Küche, wo ist die?
HP: Im Keller selbstverständlich, wo sonst.
P: Ja und wie kann ein Kind sich in diesem Haus zurechtfinden? Wie kommt es an den Aufzugschal¬ter? Und die Lichtschalter und wie sind die Treppenstufen...
Dritter Tag - Die Realisierung
Einstimmung durch Musik aus Haydn “Die Schöpfung” - Arie und Chor: »Nun verschwanden vor dem heiligen Strahle« - »Verzweiflung, Wut und Schrecken.«
Auftakt: Die Teilnehmer/innen bekom¬men den Auftrag, sich die verschiedenen Ideen noch mal anzuschauen und sich zu überlegen, was für sie wichtig ist.
Im großen Kreis notieren sich alle Teil¬nehmer/innen diese Punkte auf Kärtchen. Die Kärtchen werden gruppiert nach den Themenbereichen: Ziele, Bauideen, Strategie/Taktik, Organisation.
Gruppe Ziele
Entwicklungspsycholgie und Kunst
bewegen statt erstarren
Grün, Wassser, gewachsene Nahrung und Tiere als “erfahrbare Werte”
ein Kinderhaus für die Freizeit von Eltern und Kindern (wo die Eltern lernen können)
Was alles ist Leben? Raum für Emotionen und zyklische Erfahrung
keine kleinen Kisten - großer Erfahrungsraum
behütete Kinder und unbehütetes Zusammenbringen
Geld ist kein Maßstab
eine Architektur, die die Phantasie anregt
Familien - Stadtflucht verhindern (alternative Stadt)
Kontinuität, sich heimisch fühlen
neues Experimentieren mit Natur und Technik
das Kinderhaus soll Neu- und Altbau verbinden
Einbezug von Einrichtungen (Kirche, Schule, Vereine) in die Nutzung
Gruppe Bauideen
Freiräume und Brachflächen, wo unbeobachtet gespielt werden kann
Fertiges, das veränderbar ist, Unfertiges das weiter gebaut, umgebaut werden kann
keine fertig gestylte Kinderspielplätze, aber einfach natürliche Freiräume (Erde, Wasser, Feuer, Luft)
Werkstatt (Holz, Ton, …)
großer Freibereich, Außenanlage und Wasser
Umfeld: Park, Wiese, Randlage zur Stadt, offene Grenzen
Matschraum
Innenräume oder Pavillions (laute Musik)
ein “Rahmen”haus, das sich langsam füllt und verändern kann
Wände zum Beschmieren
Abenteuerspielplatz (auch für Erwachsene), Experimentierfreiheit
Wege zum Kinderhaus - kindgerecht
ein großer Spielplatz mit viel Abwechslung
Discoraum
Gruppe Organisation
flexible Betreuung
Kinderhaus 24 Std. geöffnet
einen Ort an dem Kinder und Jugendliche selbst Dinge aufbauen und auch zerstören können
nicht lauter kleine Institutionen und Spielplätze sondern lieber mit weniger mehr flexibles zu errei¬chen. Wichtig Fläche, Platz, Freiräume, die gut erreichbar sind und Natur miteinbeziehbar machen.
Raum für Provozierendes
Italienisch für Deutsche
Tiere
Mitarbeit von älteren Menschen
Eltern werden bei der Betreuung einbezogen / Elternbeirat
Anlässe für Erwachsene in die Werkstatt zu kommen
Gruppe Strategie und Taktik, Wege zur Durchsetzung
• Bürgerhaus - Bürger/Kinderhaus - Kinderhaus
• Politik nimmt ihre Gesamtverantwortung ernst
• Strategien der Sozialarbeit: Familie - Gruppe - gesamter Stadtteil
• Infoladen und Arbeitsgruppe Stadtteil Nord
• Kinderrat und politischer Kinderbeauftragter
• Spielplätze auch anderswo
Hier entsteht die Idee, nicht mehr von einem Kinderhaus, sondern von
“Die Kinderprag”
zu sprechen um die Landschafts- und Naturverbundenheit der Baulichkeiten zu betonen und um an die Wortgeschichte des
Gewann-Namens (Prag = Brache, Brachland) anzuknüpfen.
Zusammenführung der Ergebnisse der Erwachsenen,
Beginn der “permanenten” Werkstatt
Weiterer Ablauf der Arbeit:
Je zwei Teilnehmende aus den vier Realisierungs-Gruppen formulieren zu ihren Ergebnissen einige Seiten Text. Vertretungen der Gruppen trafen sich dann ca. zwei Wochen später zu einer Redaktionskonferenz.
Auf diesem Treffen (an dem auch zwei Personen teilnahmen, die bei der eigentlichen Zu-kunftswerkstatt noch nicht dabei waren) wurde als Ergebnis der Zukunftswerkstatt der fol¬gende Text im Sinne eines Bürgergutachtens abgestimmt (siehe S. 15 bis 20).
Daraus entstand inzwischen, zusammen mit einer Foto-Dokumentation insbesondere der Kinder-Werkstatt, ein Text der dem Oberbürgermeister, den Stadträtinnen und Stadträten, sowie dem Hochbauamt der Stadt Stuttgart vorgelegt wurde. Damit können die Ergebnisse bei der Ausschreibung der Internationalen Bauaustellung im Gebiet C1 verwendet werden.
DIE KINDERPRAG: - Ein Bürgergutachten als Ergebnis
- ein ort für kinder und familien -
ZIELE
Wohnen in der Stadt für Familien
Im Rahmen von Stuttgart 21 (Bauabschnitt C -Auf der Prag) soll ein neues, Wohngebiet entstehen. Mit Blick auf die derzeitige Umlandabwanderung der Stadtbevölkerung ist für die Zukunft sicher eine rich¬tige städtebauliche Zielsetzung, attraktive Wohnangebote besonders für Familien zu gestalten. Die Lebensqualität und positive Möglichkeiten des Wohnens in der Stadt der Zukunft sollten betont wer¬den.
Dieser Bauabschnitt soll als Internationale Bauausstellung ausgeschrieben werden. Stuttgart möchte hier an die Tradition der Weißenhofsiedlung anknüpfen. Das beinhaltet eine human hochwertige wie innovative Architektur, die sich insbesondere mit den Wohnbedüfnissen und Lebensräumen der Zu¬kunft auseinandersetzt. Dies gilt für die Wohnbereiche, das Wohnumfeld und die Infrastruktur.
Bezogen auf die Infrastruktur ist ein besonderer Schwerpunkt vorgesehen - DIE KINDERPRAG. Hier¬bei handelt es sich um einen Stadtteilort für Kinder und ihre Eltern. Ausgehend von dem gesetzlichen Auftrag einer Kindertagesstätte an diesem Ort sollen darüber hinaus Raum für Kreativität und päd¬agogisch-künstlerische Arbeit entstehen, sowie zugleich eine Einrichtung für Begegnungsmöglichkei¬ten der Stadtteilbewohner entstehen.
Es sind vielfältige Arbeitsansätze vorgesehen - diese benötigen Vielfalt an Räumlichkeiten (Innen- und Außenräume).
DIE KINDERPRAG soll gemeinsam mit den künftigen Nutzerlnnen entwickelt und realisiert werden (Stichwort Planungsbeteiligung). Erste konzeptionelle Überlegungen wurden in der Zukunftswerkstatt erarbeitet.
DIE KINDERPRAG soll ein Anreiz für Familien sein, in dieses Wohngebiet einzuziehen bzw. hier woh¬nen zu bleiben. Sie soll zu einem Bindeglied zwischen Neubau- und Bestandsgebiet werden.
Die konzeptionellen Ideen sollen durch die Gesamtanlage und ihre Architektur sichtbar werden.
Essay von Roland Haas:
Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder in der Stadt und Städtebau -
einige Gedanken zur Entwicklung sozialer Werte und individueller Fähigkeiten.
Es ist entwicklungspsychologisch bekannt, wie sehr der Aufbau sozialer, emotionaler und kognitiver Fähigkeiten des Menschen von den Entfaltungsmöglichkeiten schon im Kindesalter in Raum, Bewe¬gung und Interaktion abhängt.
Alles, was später an intellektueller und sozialer Kreativität zur Verfügung steht, bis hin zum Erfahren und Modifizieren von sozialem Verhalten, auch die Erfahrung und Akzeptanz gesellschaftlicher Werte, wird in der Kinderzeit eines Menschen entscheidend geprägt.
In der speziellen Prägung des sozialen und räumlichen Feldes in der modernen Stadt bei gleichzeiti¬gem Anwachsen medial-geprägten Lernens schwinden und modifizieren sich zunehmend die "natürli¬chen" Erfahrungsfelder der Entwicklung eines Kindes.
Viele Erfahrungen, die ein Kind in anderen, meist landschaftlich geprägten Räumen und breiteren so¬zialen Strukturen der Erwachsenenwelt machen kann, sind heute in der verkehrsgeprägten Stadt und der Klein- oder Halbfamilie schwer zu erreichen.
Da sie aber zur Persönlichkeitsentwicklung und Bildung beitragen - bis hin in die Zusammenhänge von Körpermotorik und Hirnausbildung - sind sie unerläßlich.
Die Frage entsteht, wo sonst in der Stadt Kinder diese Entwicklungsmöglichkeiten finden.
• Wo kann sich Motorik frei entfalten und gleichzeitig differenzieren?
• Wo kann das Gesichtsfeld mit Hören und Sehen an natürlichen Rhythmen geübt werden?
• Wo finden lebensechte Erfahrungen mit Bauen, Konstruieren, Balancieren, mit Kraft und Ge¬schicklichkeit der Hände Raum?
• Wo kann der Klang der Dinge differenziert werden?
• Wo sind peer-groups ungestört und zugleich sicher?
• Wie kann sich eigener Eindruck behaupten und doch an die Gemeinschaft angleichen?
All diese Dinge werden von Kindern nicht abstrakt erlebt, sondern in konkreten Räumen und mit kon¬kreten Menschen. Mit diesem Erleben sind Gefühle, Gedanken, Bewegungen, Gerüche usw. ver¬bunden. So entsteht das komplexe Gebilde einer Persönlichkeit.
Wo können also angemessene Erfahrungsräume für die Entwicklung der Kinder entstehen und wie sehen sie aus?
Sie haben nichts mit den Spielplatzgehegen zu tun, die man heute allerorten antrifft. Um hier Felder und Räume der Erfahrung unter den Bedingungen städtischen Lebens zu schaffen, bietet sich das Prinzip der künstlerischen Arbeit an.
• Hier können sich für das Kind emotionale, kognitive und handwerkliche Felder des Erlebens verbinden.
• Hier werden individuelles Ziel und allgemeine Akzeptanz, Konflikt und Kooperation, Gestal¬tung und Auseinandersetzung erfahrungsprägend.
Ergebnisse der anthropologischen Hirnforschung weisen zunehmend darauf hin, wie sehr das Prinzip des künstlerischen Arbeitens - Klang, Farbe, Spiel - und aktiven Aufnehmens die Hirnentwicklung und Balancierung fördern können. Aber auch die so wichtige emotionale Intelligenz wie Kreativität werden gebildet. Es kommt darauf an, die Sprache der Sinne als Sprache der Psyche zu erkennen, zu verste¬hen und zu sprechen. Damit sind gute Voraussetzungen gegeben, unsere menschlichen Verhältnisse produktiv zu gestalten.
In der Kunst der Moderne hat auf diese Situation Joseph Beuys hingewiesen, wenn er davon sprach, “daß jeder Mensch ein Künstler" sei.
Daher sollen die Erfahrungsräume der Kinderprag nicht einfach das Angebot gesellschaftlicher Ein¬richtung wiederholen (Theaterraum, Disco, Folostudio, Malraum). Die Architektur soll sich statt dessen in sorgfältiger Erarbeitung heutiger Ergebnisse der Entwicklungspsychologie, Himforschung und Irn¬munbiologie herausfordern lassen, die Entwicklungsräume für die genannten, persönlichkeitsbilden¬den Erfahrungen zu bauen.
Eine Stadt, die als Wohnort der Zukunft für Familien attraktiv bleiben und eine sozial wie kognitiv lei¬stungsfähige und einfallsreiche Generation bilden will, sollte diese städtebaulichen Voraussetzungen schaffen , um jungen Familien gute Argumente zur Ansiedlung geben zu können.
BAUIDEE
In der Zukunftswerkstatt tauchte auf verschiedene Weise folgende Leitidee auf
DIE "KINDERPRAG"- EINE UNFERTIGE OASE.
Im Einzelnen mit folgenden Qualitäten-
• Anstelle fertiger Konzepte — fortwährende Gestaltbarkeit.
• Anstelle von Pflaster und Beton — Natur-Räume
• Anstelle von ständiger Kontrolle und Beobachtung — Rückzugsmöglichkeiten
• Anstelle von Verboten — "laut sein können".
• Anstelle von "Haus mit Garten" — ein Gelände mit Baulichkeiten.
Umbauter Raum
Soll ein Haus Zentrum der "Kinderprag" sein, sollte es mehrere Eingänge haben, so daß die Kinder von allen Richtungen her und vom gesamten Außenbereich gut ins Haus kommen können. Die Kinder stellten sich auch Röhren und Rutschen als Eingänge vor. Die Innenräume sollten von den Kindern je nach Spiel verschieden verwendet werden können. Neben unterschiedlich nutzbaren Räumen wurden als Themenräumen gewünscht: Werkstatt, Matschraum, Disko, Musikraum, Toberaum und Computer¬raum.
Einzelne Vorschläge zur Gestaltung
• Viel Fläche
• Flexible Wände zum Auf- und Zumachen, so daß bei Bedarf auch große Räume entstehen.
• Materialräume mit Decken, Tüchern, Holz, Ton etc. ...
• Möbel und Einrichtungen sollten leicht umgenutzt und umgestellt werden können, Möbel soll¬ten auch gut zum Spiel geeignet sein. Die Kinder träumen von einem Erlebnisfußboden.
• Gebrauchte Möbel zur Intensivnutzung durch Spielen und Toben.
• Ein Werkraum
• Bevorzugte Verwendung von Naturmaterialien, ein Innenhof, (Wintergarten), der bepflanzt ist, könnte Natur ins Haus bringen.
Einzelne Ideen zum Rückzug
• ein Heuboden oder Dachboden. Für Erwachsene tabu.
• Eine Zugbrücke, um sich auf eine Burg zurückzuziehen.
• Ein Haus im Haus
• Empore/Hohe Räume für eine zweite Ebene.
• Schalldichte Probekeller, gut isolierte Proberäume
• Alle Räume sollen Kind- und Erwachsenengerecht sein (Küche, Schalter, Treppe).
Künstlerische Erfahrungsbereiche
• Möglichkeiten für Klang-Farbe-Spiel
Das Gelände
Die Zukunftswerkstatt entwickelt das Bild einer Oase für Groß und Klein. Ein Stück Brache (Prag ist das heutige Wort für das alte Worte Brache) soll wieder entstehen können.
Leitidee für den Außenbereich ist flexible Nutzbarkeit.
Anstelle von Spielplätzen mit feststehenden Spielgeräten hat die "Kinderprag" Spielbereiche, die im¬mer wieder neu gestaltet, auf- und umgebaut werden können. Materialien wie Holz, Wasser, Sand, Bambus, Weiden, Kieselsteinen, Lehm usw. sind vorhanden. Auch im Gelände kann ein kleines Werkhaus stehen.
Die Kinder wünschen sich Natur und den Umgang mit Tieren.
• Es gibt Nischen, Mulden, Büsche und Bäume, Wildwuchs - all dies kann Rückzugsmöglichkei¬ten bieten.
• Der Außenbereich muß genügend Schattenplätze haben.
• Die große Wiese soll fußballgeeignet sein.
• Großer Wunsch ist ein Schwimmbad. Zumindest ein ausgedehnter Wasserspielbereich sollte da sein.
• Sinnvoll für spontane Kochaktion und Geselligkeit ist ein Grillplatz mit Holzbackofen.
• Die ganze Einrichtung sollte gut und sicher und zugänglich sein (Autofreie Zone, sichere Ver¬kehrswege). Es sollte mitbedacht sein, daß Kinderspiel Lärm verursacht. Die Lage im Stadtteil und die damit gegebene Verbindung zum Wohnbereich muß gut durchdacht sein. Nicht die Kinder sollten schallisoliert sein, sondern bestenfalls die Häuser in der Nachbarschaft. Der Außenbereich muß groß genug sein.
ORGANISATIONSFORMEN
Trägerschaft, Organisation(en) nach AUSSEN
Zur Trägerschaft dieses Hauses sind mehrere Modelle denkbar:
1. Zum einen kann die Trägerschaft ausgeschrieben werden.
2. Zum anderen können Eltern und Kinder sowie Institutionen im Stadtteil auf der Prag die Trä¬gerschaft übernehmen - unter Beteiligung der Stadt. Dabei ist die Bedingung, daß der finan¬zieller Träger nicht das Programm und die Inhalte bestimmt. Diese werden grundsätzlich von der “Kinderprag” selbst erarbeitet, umgesetzt und weiterentwickelt.
3. Ein Konsortium als Träger mit nur eingeschränkter Mitsprache-Möglichkeit - aus privaten oder öffentlichen Trägem ggfs. aus dem Stadtteil.
Organisation nach INNEN
Eltern und Kinder arbeiten gleichermaßen an Programmgestaltung und Konzeption mit.
Freiwillige Mitarbeit ist ein wichtiges Organisationsprinzip, sie wird einbezogen bei Aufbau, Betrieb, Verwaltung, Betreuung und der Verantwortlichkeit für die Arbeitsbereiche.
Alle Altersgruppen und Generationen sind einzubeziehen - also Eltern und Großeltern, Jugend¬liche und Kinder. Erwachsene können von und über die Kinder lernen.
• Alle Gruppierungen - ethnische, religiöse, soziale - sind einzubeziehen.
• Ein Beteiligten-Rat hilft, zwischen den Gruppen in der "Kinderprag" und außerhalb im Stadt¬teil, hier den unterschiedlichen Interessen, zu vermitteln und sie auszugleichen.
• Die Betreuer in der “Kinderprag" müssen so geschult und persönlich auf die "Kinderprag" ein¬gestellt sein, daß sie kreative Förderung von Kindern und Erwachsenen ebenso wie die Verbindung zwischen den Gruppeninteressen und Trägem gewährleisten. Künstler sind in die Ar¬beit einzubeziehen.
• Die Gesamtanlage mit ihrem großzügig bemessenen Außenbereich und den Bauwerken im engeren Sinn macht unterschiedliche Organisationsformen notwendig.
• Die Gesamtanlage, Außenbereich ist uneingeschränkt von Tages- oder Jahreszeit zugänglich zu machen.
• Innerhäusig ist die “Kinderprag” möglichst lange offen zu halten.
• Die “Kinderprag” wird mehrsprachig geführt.
• Das Programm der “Kinderprag” ist auf die Gesamtentwicklung von Kindern und Eltern orien¬tiert. Es macht definitiv kein Angebot zur schulischen Betreuung und Nachhilfe etc.. (die sind im Stadtteil an anderer Stelle gegeben).
• Alle Serviceleistungen werden zum Selbstkostenpreis angeboten.
• Im Raumangebot gibt es Bereiche, die nur bestimmten Interessengruppen (z.B. für Kinder, nur für Mädchen, nur für Jungen usw.) zugänglich sind.
• Die “Kinderprag” arbeitet mit anderen benachbarten Einrichtungen im Stadtteil zusammen.
STRATEGIE: DER WEG ZUR KINDERPRAG
Anders als bisherige Einrichtungen für Kinder (KIGA, KITA, Jugendfarm etc. ... ) sollte die “Kinderprag" eine neue Form erhalten, die mit neuen Inhalten belegt wird, die auf den Bedarf und Bestand abgestimmt sind und mit den bestehenden Einrichtungen zusammenarbeiten statt zu konkurrieren. Dies bedeutet auch verschiedene Trägerschaften eventuell Patenschaften.
Es sollte das Konzept auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sein, vorrangig vor Sachzwängen.
Durch den Charakter des “Neuen” wird es zu einem interessanten Objekt (Musterbeispiel für IBA, für Architektenwettbewerb und ein Versuchsmodell für die Integration von Kultur, Bildung und Kunst im Erziehungsprozess zu Gunsten einer umfassenden Bildung des Menschen.
Diese Qualitäten begünstigen Zuschüsse und eine reale Chance für eine Mehrheit im Gemeinderat und in der Verwaltung.
Planungen
Wir fordern bei der Planung der “Kinderprag” eine “permanente” Planungswerkstatt und haben fol-gende Ziele im Sinn:
Wir entwickeln durch Mitarbeit der Bürger ein neues gesellschaftliches Bewußtsein durch eine neue Planungskultur.
Diese geschieht durch Zukunftswerkstätten. Dadurch ist eine Planung zu erwarten, die deshalb besser wird, weil sie größere Zielgruppen einbezieht und mehr Kontrollen überstehen und Meinungen inte¬grieren muß.
Durch die Mitarbeit von Bürgem wird das Projekt über einen größeren Zeitraum durch ..Mundpropaganda” (Schneeballeffekt) den anderen Bewohnern bekannt gemacht. Es können recht¬zeitig Bedenken geäußert werden. Das Projekt ist im Gespräch, bei den Bürgern entsteht dadurch eine höhere Akzeptanz bzw. Identifikation mit dem Projekt. Das Einbeziehen von Institutionen wie z.B. Pressearbeit, Infoladen auf der Prag, Stuttgart 21, Stadtteil-Nord, Lokale Agenda 21 usw. fördert den Bekanntheitsgrad (evtl. Fördergelder, Spenden) wie auch die Kontrolle dessen, was dort geplant wird und entsteht.
Ein wichtiger Aspekt bei der Mitarbeit in Planungswerkstätten im Hinblick auf die Zukunft ist die Förde¬rung und Mitarbeit der Jugend. Besonders der Jugendrat Nord ist hier einzubeziehen. Dies sollte für das Projekt “Kinderprag” zur Selbstverständlichkeit werden. Der Jugendrat wächst mit den Arbeiten und der bestehenden “Kinderprag” in die Verantwortung hinein und wird sowohl auf der “Kinderprag” als auch im so angedachten neuen Stadtteil Auf der Prag-Rathaus einen Wirkungskreis haben.
Die Funktion der “Kinderprag” in Ergänzung bestehender Einrichtungen
Die “Kinderprag” wird eine sinnvolle Ergänzung der bestehenden Erziehungseinrichtungen und keinesfalls eine Konkurrenz.
Sie muß durch Wandlungsfähigkeit diesem Anspruch auf Dauer nachweisbar genügen können um auch die volle Unterstützung der bestehenden Institutionen erhalten zu können. Nur wenn die beste¬henden Trägerschaften einen Nutzen für ihre Institution in dieser neuen Einrichtung erkennen, so können diese auch zu finanziellen Unterstützungen (Teilträgerschaften, Partnerschaften) angeregt werden.
Um diesem Anspruch zu genügend, ist es außerordentlich wichtig, daß die “Kinderprag” eine sinnvolle räumliche Integration in den neu zu entwickelnden Stadtteil und in das bestehende Stadtgefüge Stuttgart-Nord erhält und die Stadterweiterung auch durchgeführt wird.
Zwischen alt und neu wird also eine Verbindung nötig, wenn ein neuer gemeinsamer Stadtteil auf der Prag aus dem bisherigen Stuttgart-Nord und dem Gebiet C1 entstehen soll und wenn es als gemeinsamer Stadtteil funktionieren soll. Sowohl kulturell, infrastrukturell und baulich muß das Konzept verbunden sein; auch und besonders in der Planung der “Kinderprag”.
Ideenskizze: Lage/Funktion der Einrichtungen
Standort des Kinderhauses: “Lärm ist kein Problem”
Die Skizze zeigt ein Beispiel für eine Kernstadtteil-Struktur, das in der Zukunftswerkstatt entstanden ist. Die Nordbahnhofstraße als bestehende kulturelle und bauliche Achse des Stadtteils soll auch wei¬terhin ihre Funktion erfüllen. In diesem Entwurf wird sie zum Rückgrat des Stadtteils, das im Bereich der Rosenstein-Schule eine Erweiterung erfährt, sich in das Gebiet C1 mit der neuen Bebauung in veränderter Form fortsetzt und damit neu und alt verbindet.
Das zentrale Gelenk könnte ein Stadtteil-Rathaus (Bürgerhaus oder ähnliches) mit Marktplatz (Vorplatz) sein.
Dabei sollte dringend auf ein integratives Grünflächenkonzept “Grünes Netz” mit sicheren, kinderge¬rechten Wegen besonders im Bereich dieses Rückgrates geachtet werden. Dies ermöglicht auch den Einsatz zur “Stadt der kurzen Wege”.
Wir alle haben mit geplant und wollen uns weiter beteiligen
Ablauf und Einschätzung
der Zukunftswerkstatt mit Erwachsenen durch den Moderator:
So ist die Idee zur Kinderprag entstanden
Initiative und Mitarbeit
Die Werkstätten zur Planung eines Kinderhauses mit der Bevölkerung gehen auf Initiative von Herrn Dr. Haas, Kulturamt der Stadt Stuttgart, zusammen mit Frau Bolland, Jugendamt, zurück. Mein Vor¬schlag war es, parallel dazu eine Zukunftswerkstatt mit Kindern im Alter der Zielgruppe (6-12 Jahre) durchzuführen.
In verschiedenen Gesprächen koordinierten die Beteiligten, Gruppen und Organisationen, die Werk¬statt: Gastgeber war das Haus 49 in der Mittnachtstraße mit Unterstützung des benachbarten Jugend¬hauses, Unterstützung signalisierte die Stadtteilrunde und insbesondere die Aktiven des sich eben bil¬denden Info-Ladens e.V. sowie die Fachkonferenzen Bildung/Erziehung/Kultur und Stadtentwicklung der Lokalen Agenda 21 für Stuttgart - und Personen aus diesen Kreisen nahmen dann auch teil.
Zwei Studentinnen der Sozialpädagogik (im Alter von 24 und 59 Jahren) der Katholischen Stiftungs¬fachhochschule Benediktbeuern übernahmen die Moderation der Kinderwerkstatt, unterstützt von Stu¬dentinnen und einem Studenten der Fachhochschule für Kunsttherapie in Nürtingen.
Insgesamt beteiligten sich über 20 Erwachsene an der Vorbereitung und der Werkstatt selbst. Inner¬halb der begonnenen Nacharbeit (permanente Werkstatt) haben sich bereits weitere Personen aus dem Stadtteil engagiert.
Zur Werkstatt war eingeladen worden über zweisprachige Handzettel, Plakate, Briefe, persönliche Gespräche und knappe Pressenotizen. Trotz der ausgesprochenen Förderung der Idee durch die Stadtteilrunde waren nicht alle Gruppierungen im Stadtteil in der Werkstatt selbst vertreten. Will man dies in Zukunft erreichen, sollten persönliche Einladungen an die Gruppenvertretungen ergehen nach dem Motte: “Wir brauchen gerade Sie oder jemanden, den Sie benennen.”
Das Werkstatt-Wochenende
“Wer immer kommt, es sind genau die richtigen Leute” - diese Erfahrung aus der Moderation offener Prozesse bestätigte sich auch “Auf der Prag” wieder. Der genaue Ablauf und den Ergebnissen sind in einem illustrierten Protokoll beschrieben (das Sie eben in den Händen halten). Daher will ich hier nur eine Einschätzung zur Zusammenarbeit der Kinder und Erwachsenen geben. Beide Werkstätten wur¬den bei der Präsentation der Utopien und am Schluß - bei der Entscheidung über die Pläne - zusam¬mengeführt. Für die Kinder war es ein prägendes Erlebnis, daß sich Erwachsene so ernsthaft und of¬fenkundig für Kinderangelegenheiten engagierten. Die Arbeit der Erwachsenen wurde sehr beflügelt durch die Vitalität, Kreativität und schwerelose interkulturelle Kooperation der um sie herum ar¬beitenden Kinder - all dies machte Erinnerungen an die eigene Kindheit “farbig” und aktuell. Hilfreich für den Realitätsbezug innerhalb der Erwachsenenwerkstatt war der gleichermaßen präsente Wunsch der Kinder nach Freiräumen zur Selbstbestimmung, nach Führung und nach Hilfe beim Verständnis einer oft verwirrenden sozialen Wirklichkeit. Mut machte der sichtbare Wille der Kinder, die Aufgabe anzupacken, nicht ausufernd lange zu planen sondern möglichst schnell selbst zu bauen.
Die Ergebnisse - die permanente Werkstatt
Die Ergebnisse, wie sie am Ende unter Verwendung der Kinderpläne von den Erwachsenen zusam¬mengetragen und auf einer ersten Nachsitzung ausformuliert wurden, können sich sehen lassen (in mehr als vier Seiten können sie im Schlußteil des Protokolls nachgelesen werden). Diese Ergebnisse sind, aus Sicht der zukünftigen Nutzer, klar formulierte und phantasieanregende Auftragsbeschreibun¬gen für Architekten und Landschaftsplaner, die der Ausschreibung der Wettbewerbe zur Vorbereitung der Internationalen Bauausstellung beigefügt werden sollen. Auch der Name “Die Kinderprag” ist in der Zukunftswerkstatt entstanden. Dieser Name bezieht sich auf den alten Flurnamen des Stadtteils (Prag = Brache) und lenkt den Augenmerk weg von einem Haus mit Umgebungsgrün auf eine durch Kinder erfahrbare Naturlandschaft (Wasser-Wiese-Bäume/Sträucher-Tiere, …) mit für Klang-Farbe-Spiel geeigneten Baulichkeiten.
Die Vorschläge gehen aber noch weiter. Sie geben Auskunft über die pädagogischen, kinderpoliti¬schen, interkulturellen und polyästhetischen Ziele des Projekts und angemessene Organisationsfor¬men nach innen und außen. Sie bedenken auch, welche Strategien und Taktiken zur Verwirklichung des Planes dienlich sein können.
Eine wesentliche Entscheidung, eine Selbstverpflichtung der Teilnehmenden aus dem Stadtteil und der Lokalen Agenda 21 dabei ist: Sie werden den Prozeß von Planung und Bau der Kinderprag bür¬gerschaftlich weiter begleiten. Dies weiter zu fördern liegt im wohlverstandenen demokratischen Inter¬esse der Stadt Stuttgart als Auftraggeberin.
Winterbach, im Juli 1998
Monika Schlecht und Walter Häcker beim Moderieren
Inhaltsverzeichnis
Impressum: 2
Zur Methode Zukunftswerkstatt 3
Struktur und Ablauf der Zukunftswerkstatt “Kinderhaus” 3
Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Werkstatt der Erwachsenen 4
Der erste Tag: Kennenlernen 4
Kennenlernen untereinander 4
Aufgabenstellung und Kennenlernen des Gebiets 4
Vorstellung der Zukunftswerkstatt (ZW) 5
Der zweite Tag - Kritik und Utopie 5
Die Kritikphase 5
Entspannung, Mittagspause 7
Die Utopiephase - Alles ist möglich! 8
Die Prag der Möglichkeiten - Präsentation der Utopien 8
Kinder zeigen, wie sie sich “ihr Kinderhaus” wünschen 10
Die Ideen der Erwachsenen 11
Dritter Tag - Die Realisierung 13
Gruppe Ziele 13
Gruppe Bauideen 13
Gruppe Organisation 14
Gruppe Strategie und Taktik, Wege zur Durchsetzung 14
Zusammenführung der Ergebnisse der Erwachsenen 14
DIE KINDERPRAG: - Ein Bürgergutachten als Ergebnis 15
- ein ort für kinder und familien - 15
ZIELE 15
Wohnen in der Stadt für Familien 15
Essay (RH):
Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder in der Stadt
und Städtebau -einige Gedanken zur Entwicklung sozialer Werte und individueller Fähigkeiten. 15
Umbauter Raum 16
Einzelne Vorschläge zur Gestaltung 17
Einzelne Ideen zum Rückzug 17
Künstlerische Erfahrungsbereiche 17
Das Gelände 17
Die Kinder wünschen sich Natur und den Umgang mit Tieren 17
ORGANISATIONSFORMEN 18
STRATEGIE: DER WEG ZUR KINDERPRAG 19
Planungen 19
Die Funktion der “Kinderprag” in Ergänzung bestehender Einrichtungen 19
Ideenskizze: Lage/Funktion der Einrichtungen 20
Ablauf und Einschätzung 22
So ist die Idee zur Kinderprag entstanden 22
Ausgewählte Literatur zur Zukunftswerkstatt 24
Berufs- und Lebensstationen
5)
Frankfurt 1967-1977